Kapitel 1 – Szene #3

Szene 3. Verborgene Wunden – Fenster in die Vergangenheit

Die Großstadt Köln war noch in morgendlichen Nebel eingehüllt, als Stig das beeindruckende, geschichtsträchtige Gebäude des Gymnasiums betrat. Heute erschien es ihm beim Gang zum Klassenzimmer noch düsterer als üblich und ihm fielen die viel zu kleinen, nicht geputzten Fenster und die dicken, unverzierten, steinernen Wände des Gebäudes auf, die an vielen Stellen mit Schüler-Graffitti beschmiert oder auch einfach nur renovierungsbedürftig waren.

Als er das Klassenzimmer betrat, hörte er das übliche Stimmengewirr von Schülern, die sich über die Ereignisse des Wochenendes austauschten. Doch unter diesem alltäglichen Rauschen spürte er eine untergründige Spannung. In der hintersten Ecke des Raumes lehnte ein Junge mit stacheligem, bunten Haar und dunklen Augenringen an der Wand. Er schien das Zentrum dieser Spannung zu sein.

Stig räusperte sich und begann den Unterricht. Während er die Hausaufgaben kontrollierte und in der Klasse herum ging, sagte er leise zu Leon: „Nach dem Unterricht möchte ich mit dir sprechen.“

Als die Stunde endete, bat Stig Leon, zu bleiben. Sie traten in den leeren Korridor hinaus.

Auf dem Flur stellte Stig Leon zur Rede:

„Leon,“ begann Stig ruhig, „es gibt Gerüchte. Ich hoffe, dass sie nicht wahr sind.“

Leon vermied Stigs Blick. „Was für Gerüchte?“

„Über harte Drogen.“

Leon funkelte Stig herausfordernd an: „Das ist typisch: Weil ich bunte Haare habe, glauben Sie solche Gerüchte. Ich habe aber nichts mit Drogen zu tun.“

Stig seufzte. „Es ist nicht meine Absicht, dich zu verurteilen, Leon. Aber wenn du in Schwierigkeiten steckst, lasse dir helfen.“ Stig dachte an seine Studienfreundin, an die unauslöschliche Narbe in seiner Seele.

„Was wissen Sie schon von Schwierigkeiten?“, knurrte Leon.

„Leon. Ich weiß, was du getan hast. Das ist absolut inakzeptabel! Du bringst nicht nur dich, sondern auch andere in Gefahr!“

Leon erwiderte bitter: „Ich habe nichts mit Drogen zu tun. Und was wissen Sie schon? Sie leben in Ihrer kleinen, perfekten Welt. Sie verstehen nichts.“

Stig spürte, wie seine Kontrolle zu schwinden begann. Die Wut und Frustration, die sich in ihm aufgebaut hatten, suchten einen Ausweg. „Solche Drogen sind kein Spiel, Leon! Du spielst mit dem Leben von Menschen!“

Leon erwiderte bitter: „Was erfinden Sie für Geschichten! Ich habe nichts mit ihren schlimmen Drogen zu tun. Und was, wenn mir so was auch egal wäre?“

Die Worte trafen Stig wie ein Schlag. Er musste sich beherrschen, nicht laut zu werden. „Du denkst, es ist dir egal, aber glaube mir, wenn du wirklich jemanden durch Drogen verlieren würdest, würdest du anders denken.“

Leon zuckte nur mit den Schultern und ging zurück ins Klassenzimmer, ließ Stig alleine auf dem Flur zurück.

Auf dem Rückweg nach Hause ließ Stig die Szene noch einmal Revue passieren. Was habe ich getan? Ich habe völlig falsch reagiert und habe mich von meinen Emotionen leiten lassen. Leon braucht Hilfe und Verständnis, nicht meine Wut. Er dachte an seine Studienfreundin und den Schmerz, den ihr Selbstmord in ihm ausgelöst hatte. Ich hätte für sie da sein sollen. Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen. Er schüttelte den Kopf.

Stig war entschlossen, Leon zu helfen und ihn nicht aufzugeben. Er wollte nicht, dass Leon am Ende noch von der Schule flog. Wenn diese Angelegenheit bis zur Schulleitung druchdrang, würde Leon massive Probleme bekommen. Doch um hier wirklich helfen zu können, musste er sich auch seiner eigenen Vergangenheit stellen und den Schmerz verarbeiten, den er all die Jahre tief in sich verborgen hatte.

Während Stig weiter durch die Straßen Kölns fuhr, schweiften seine Gedanken wieder zur Therapiesitzung von Elli zurück. Er erinnerte sich an die tiefe Verbindung, die er zu ihr spürte, den unermüdlichen Wunsch, sie zu beschützen, sie von den dunklen Schatten ihrer Vergangenheit fernzuhalten. Es war dieses nagende Gefühl von Ohnmacht, das ihn in jener Nacht mit Anja befallen hatte und das er jetzt wieder fühlte, wenn er an die Herausforderungen dachte, denen Elli gegenüberstand.

„Ist es möglich“, dachte er, „dass dieser alte Schmerz meine Fähigkeit zu lieben, zu beschützen, so stark geprägt hat? Vielleicht versuche ich, bei Elli das wieder gut zu machen, was ich bei Anja nicht konnte?“ Er atmete tief durch und spürte, wie die Erinnerung an jene Nacht wieder hochkam. Die unerträgliche Stille, die sich ausbreitete, als er von Anjas Schicksal erfuhr, und das Gefühl, nicht genug getan zu haben.

Stig erinnerte sich an die Worte von Ute während der Therapiesitzung, dass Elli sich mit dem Rücken zur Wand fühlen würde und dass er so stark beschützend gewirkt hätte. Er wollte ihr Vertrauen schenken, dass sie genug auf sich achtete, doch er hatte auch schon erlebt, dass sie über ihre Kräfte gegangen war. Stig wischte sich erschöpft mit der Hand durchs Gesicht. Er fühlte sich zerrissen zwischen dem Wunsch, Elli zu unterstützen, und der Angst, sie zu sehr zu gängeln.

Er atmete tief durch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er wusste, dass er noch einen Weg vor sich hatte, um seine Vergangenheit vollends zu verstehen und zu verarbeiten. Und er wusste auch, dass er und Elli gemeinsam stärker waren und dass sie ihm helfen konnte, wie er ihr half.

Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Es war dieses unsichtbare Band, das sie verband; -Diese nicht ausgesprochene Zuneigung und Sorge füreinander. Ein leises Versprechen, das niemals gebrochen wurde, was ihn daran erinnerte, dass er nicht alleine war. Es gab jemanden, der bereit war, immer an seiner Seite zu sein und gemeinsam konnten sie den Dämonen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trotzen.

Stig setzte nun deutlich zuversichtlicher seine Fahrt nach Hause fort.

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