Kapitel 1 – Szene #2

Szene 2: Grenzen des Vertrauens – Netzwerksitzung bei Timmek Lichtschein

In einem angenehm eingerichteten Raum mit behaglicher Atmosphäre saß Timmek Lichtschein, ein älterer Therapeut mit warmem, durchdringendem Blick, an einem runden Holztisch. Neben ihm saßen zwei Frauen aus seinem Therapieteam. Elli und Stig hatten ihnen gegenüber Platz genommen. Die Stühle waren bequem und förderten eine aufrechte Haltung.

An der Seite des Raumes stand ein Bücherregal voller Fachliteratur. Eines der Bücher trug den Titel „Die gemeindeorientierte integrierte Versorgung: Ein skandinavisches Modell“.

„Ich freue mich, dass wir uns heute wiedersehen, Elli und Stig,“ begann Timmek freundlich. „Aber bevor wir anfangen, möchte ich Ihnen unsere neue Psychologin vorstellen: Frau Dr. Erle Seetmut.“

Eine elegante Frau Anfang dreißig mit kurzen, blonden Haaren und einer intelligenten Ausstrahlung stand auf und lächelte Elli und Stig freundlich zu. „Ich habe schon viel über Sie beide gehört und freue mich darauf, Sie besser kennenzulernen.“

Elli betrachtete die neue Therapeutin misstrauisch, während Stig höflich nickte. „Ich bitte um Verständnis, aber für mich ist es immer schwierig, wenn jemand Neues ins Team kommt,“ sagte Elli leise.

Timmek lächelte verständnisvoll. „Natürlich, Elli. Wir haben darüber schon oft gesprochen. Ich bewundere, wie Sie es immer wieder schaffen, Ihr Misstrauen zu überwinden, um anschließend die Früchte dieses Kraftaufwands zu ernten. Bei Frau Dr. Seetmut wird sich dies sicherlich lohnen. Sie ist eine Expertin in den Bereichen Systemtherapie, Verhaltenstherapie und Metakognition. Ich bin sicher, sie wird uns wertvolle Einsichten und Perspektiven bieten.“

Ute Miterleb, die Sozialarbeiterin, lehnte sich vor und legte beruhigend ihre Hand auf Ellis Arm. „Sie ist hier, um Ihnen zu helfen, Elli. Sie gehört zu unserem Team. Sie wird Ihnen keine Medikamente aufdrängen oder Sie zu etwas überreden, was Sie nicht wollen.“

Elli nickte langsam. „Ich weiß, Ute. Es ist nur… ich habe hart dafür gekämpft, ohne Medikamente klarzukommen.“

Stig räusperte sich. „Elli, ich mache mir Sorgen um dich. Du bist in letzter Zeit so gestresst, und ich habe das Gefühl, dass es dir nicht gut geht. Du nennst das immer nur verharmlosend ‚Gedankenschatten‘. Aber ich habe das Gefühl, du hast immer häufiger starke Symptome. Das ist überhaupt kein gutes Zeichen. Ich glaube, das Ganze hat auch viel mit deinem nächtlichen Einsatz gegen Cyber-Bedrohungen zu tun, oder?“

Elli biss sich auf die Unterlippe. „Vielleicht. Aber ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.“

Stig presste die Lippen aufeinander und schien kurz nachzudenken. Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn. „Ich frage mich, warum du ständig so hart an die Grenze gehen musst, Elli. Du nimmst leichtfertig ein großes Risiko in Kauf, dass es dir wieder schlechter geht. Ich habe das Gefühl, du verlierst nicht nur dich, sondern auch mich dabei völlig aus den Augen. Bei einer Krise bin ich immer auch stark davon betroffen. Du musst verstehen, dass du vulnerabel bist und dass du deshalb auf dich achten musst! Dir zuliebe, aber auch mir zuliebe!“

Elli blickte ihn traurig an und dachte im Stillen: Welche Grenze meinst du denn? Es gibt hierbei nicht eine bestimmte Grenze. Jeder Mensch hat verschiedene Grenzen an unterschiedlichen Stellen, die sich sogar auch verändern, während er sich entwickelt. Wo liegt zum Beispiel die richtige Grenze zwischen Egoismus und Altruismus? Das müssen wir doch alle für uns selbst herausfinden dürfen, oder?

„Ich verstehe sehr gut, dass ich vulnerabel bin,“ sagte sie dann laut. „Ich fühle mich da vollkommen missverstanden von dir, Stig. Ich habe doch ständig das Gefühl, eine drohende Krise würde über mir hängen wie ein Damoklesschwert.“

Stig schüttelte den Kopf und antwortete vorwurfsvoll: „Ich verstehe dich diesbezüglich wirklich nicht. Wenn du das große Risiko siehst, warum schonst du dich dann nicht mehr? Oder, vielleicht solltest du doch einmal über Medikamente nachdenken, wenn du dich so belasten möchtest.“

Bei diesen Worten von Stig wurde Elli blass und rückte impulsiv ihren Stuhl ein wenig zur Seite, um ihren Abstand zu Stig zu vergrößern.

Eine unangenehm lange Pause trat ein. Stig und Elli wirkten sehr niedergeschlagen und ihnen schienen weitere Worte zu fehlen.

Timmek lehnte sich zurück. „Unser spezielles Modell der integrierten Versorgung und Gemeindepsychiatrie hat viele Erfolge gezeigt. Es ermöglicht es den Betroffenen, zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung zu bleiben und Klinikaufenthalte zu vermeiden. Außerdem bietet unser Netzwerk hervorragende Möglichkeiten, Elli bei ihrem großen Wunsch zu unterstützen, ihr Leben ohne Medikamente meistern zu können. Aber dies erfordert, dass wir alle zusammenarbeiten. Ich frage mich, was wir tun können, um Elli und Stig in dieser Situation zu helfen.“

Es blieb wieder eine Zeit lang still, und Elli und Stig starrten beide traurig vor sich auf den Tisch.

Nach kurzem Abwarten schlug Timmek vor: „Vielleicht könnten wir heute die Methode des Reflektierenden Teams nutzen. Es könnte hilfreich sein, Elli und Stig aus einer anderen Perspektive zu betrachten und unsere Beobachtungen miteinander zu teilen.“

Stig, der diese Methode noch nicht kannte, warf ihm einen fragenden Blick zu. „Was genau bedeutet das?“

Ute Miterleb erklärte: „Es ist eine Methode, bei der sich das Therapieteam zurückzieht und über das, was es während der Sitzung beobachtet hat, reflektiert. Sie beide können uns dabei zuhören. Manchmal hilft es, die Situation aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, zogen sich Timmek, Dr. Seetmut und Ute ein Stück zurück, sodass Elli und Stig sie noch sehen und hören konnten.

Nach einem kurzen, abwägenden Blick begann Dr. Seetmut: „Ich bemerkte, wie Elli zögerte, als ich mich vorstellte. Es ist offensichtlich, dass sie Schwierigkeiten hat, Vertrauen zu neuen Teammitgliedern zu fassen.“

Timmek nickte. „Ja, das Vertrauen ist ein zentrales Thema für Elli. Sie hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht und es ist verständlich, dass sie vorsichtig ist.“

Ute fügte hinzu: „Ich habe das Gefühl, dass Stig sich sehr um Elli sorgt. Sein Blick auf sie war während des gesamten Gesprächs sehr beschützend. Elli macht einen nervösen Eindruck und ich könnte mir vorstellen, dass sie sich sozusagen ‚mit dem Rücken zur Wand‘ fühlt.“

Dr. Seetmut nickte. „Ich könnte mir vorstellen, dass es Elli hilft, wenn ihr Vertrauen geschenkt wird. Sie hat in all den Jahren viel Erfahrung angesammelt, welche Wege ihr helfen, ihre Kräfte zu regenerieren.“

Timmek stimmte ihr zu: „Diesen Gedanken hatte ich auch. Wir wissen, dass Elli bereits viele ähnliche Situationen in der Vergangenheit erfolgreich bewältigt hat.“ Er machte eine kleine Pause, und alle dachten ein wenig nach. Dann fuhr Timmek fort: „Wir dürfen nicht vergessen, dass das starke Fokussieren ihrer Gedanken auf eine sinnvolle Aufgabe zu den Werkzeugen gehört, die Elli entdeckt hat, um ihre ‚Gedankenschatten‘ im Zaum zu halten. Der Kraftaufwand, den sie dabei investiert, ist aber natürlich immer eine Gratwanderung.“

Timmek wendete sich an Dr. Seetmut und ergänzte: „Sie haben es vielleicht schon in Ellis Unterlagen gelesen: Elli nennt ihre Symptome ‚Gedankenschatten‘. Aus meiner Sicht ist das eine sehr treffende Beschreibung.“

Dr. Seetmut nickte. „Natürlich. Es entspricht der klugen Überzeugung, dass hier nicht eine schwere psychische Erkrankung oder etwas Pathologisches im Vordergrund stehen sollte. Außerdem hilft dieser gut gewählte bildliche Name für ihre Problematik Elli bestimmt dabei, sich von diesen abwegigen ‚Gedankenschatten‘ zu distanzieren, die mehr Schatten als tatsächliche Gedanken sind.“

Nach einigen weiteren Minuten des Austauschs, währenddessen Elli und Stig aufmerksam zuhörten, wandte sich das Reflektierende Team wieder den beiden zu.

Elli sah nachdenklich aus. „Es ist interessant, Ihr Gespräch zu hören. Es gibt mir eine andere Perspektive.“

Stig nickte. „Es war seltsam, Sie über uns sprechen zu hören, aber es hat auch geholfen. Es fühlt sich an, als würden wir gemeinsam nach Lösungen suchen.“

Timmek lächelte. „Das ist genau das Ziel dieser Methode. Es geht darum, gemeinsam zu reflektieren und neue Sichtweisen zu finden.“

„Mir ist durch die Hinweise aus Ihrem Gespräch ein wenig klarer geworden, dass Elli bei ihrem Engagement gar nicht nur schädlich für unsere Beziehung handelt,“ sagte Stig und blickte Elli lächelnd an.

Elli antwortete: „Ja, ich bin wohl eher ständig bemüht, unsere Beziehung nicht durch meine Gedankenschatten zu belasten, Stig. Ich bin ständig auf der Suche nach Heilung und Normalität. Es ist wirklich eine permanente Gratwanderung.“

Eine kleine Pause entstand, und Dr. Seetmut ergriff das Wort: „Wichtig ist, dass Sie dabei in sich hineinhorchen und auf Ihre Bedürfnisse achten, Elli. “ Dr. Seetmut warf Timmek einen freundlichen Blick zu und fügte hinzu: „Dazu fällt mir auch ein weiser alter Spruch ein: „Wahre Heilung beginnt dort, wo wir den Mut finden, uns selbst zu erkennen.“

Elli nickte und fuhr fort: „Ich weiß … Und mein größter Wunsch ist, zusammen mit dir, Stig, ein normales Leben zu führen. Ich möchte eine berufliche Existenz haben und meinem Job nachgehen.“

Stig und Elli tauschten einen liebevollen Blick aus.

„Und es geht hierbei wirklich nicht darum, mich nur zu schonen und zu verkriechen. Dadurch geht es mir eher schlechter. Ich habe in all den Jahren gelernt, dass ich mich nicht nur schützen, sondern mich ständig vorwagen und ein gewisses Risiko eingehen muss. Zusätzlich möchte ich das alles ohne Medikamente schaffen.“

Sie blickte in die Runde und fügte hinzu: „Ich habe nur die Chance, es ohne Medikamente zu schaffen, wenn ich es ausprobiere und mich auf diesem Weg vorwage.“

Es blieb eine Zeit lang still. Ellis Blick glitt unsicher prüfend über die Gesichter ihrer Gesprächspartner. Bei allen drei Therapeuten meinte sie Anzeichen für eine freundliche Zustimmung erkennen zu können.

„Dazu fällt mir jetzt ebenfalls ein alter weiser Spruch ein,“ sagte Timmek nachdenklich. „‚Nichts in deinem Leben kann in Erfüllung gehen, das du nicht zuvor geträumt hast.’“ Alle Anwesenden, bis auf Stig reagierten zustimmend auf Timmeks Anmerkung. Stig aber runzelte die Stirn, sein Ausdruck war von Sorge geprägt. „Ich weiß nicht…“, sagte er zögernd.

Elli atmete tief durch und erklärte weiter: „Manche Menschen würden vielleicht sagen, bei meiner Vulnerabilität wäre ein normales Leben nur mit Medikamenten möglich; besonders bei meinem anspruchsvollen und oft auch stressigen Job. Ich frage mich aber, welche Dosis passend wäre, um mich für alle Herausforderungen oder Ereignisse zu wappnen? Vermutlich wäre es eine Dosis, bei der die Nebenwirkungen so stark wären, dass meine Lebensfreude verloren ginge und meine Kreativität, die ich für meinen Job so nötig brauche.“

Jetzt meldete sich Timmek erneut zu Wort, indem er sich ein wenig räusperte. „Vielen Dank für diese Worte, Elli. Das klingt alles sehr nachvollziehbar. Sie wissen aber, dass es einen Deal bei dieser Geschichte gibt, oder?“ Er lächelte Elli dabei aufmunternd an.

Elli nickte und lächelte ebenfalls. „Natürlich. Wenn ich auf Medikamente verzichte, ist der Deal, dass ich alle anderen Werkzeuge dafür umso besser nutze.“ Sie machte eine kleine Pause. Dann blickte sie Stig fest in die Augen. „Und da muss ich zugeben, Stig, deine Sorgen sind zurzeit berechtigt. Mir ist klar, dass ich mich in letzter Zeit vielleicht ein wenig zu sehr in die Arbeit gestürzt habe. Ich weiß auch, dass ich zwar schon viel gelernt habe, aber ich möchte noch besser darin werden, auf mich aufzupassen.“

Timmek lächelte und hob bedeutungsvoll den Zeigefinger. „Das klingt sehr gut. Ich muss sagen, Sie besitzen ungewöhnlich ausgeprägte Fähigkeiten im Bereich der Selbstreflexion und Selbstheilung, Elli.“

Stig rückte näher an Elli heran, ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. „Ich möchte doch eigentlich auch dabei helfen, dass du ohne Medikamente ein normales Leben führen kannst,“ sagte er mit einem liebevollen Lächeln.

Elli lächelte ihm ebenfalls zu und blickte dann auch Dr. Seetmut sehr freundlich an, denn sie hatte das Gefühl, dass diese neue Therapeutin tatsächlich sehr gut in ihr Therapieteam passen könnte.

Ein stilles Einverständnis lag in der Luft, und für einen Moment schien es, als ob die Last auf Ellis Schultern etwas leichter geworden war. Die Atmosphäre im Raum war plötzlich von einer spürbaren Hoffnung erfüllt, als hätten sie gemeinsam einen wichtigen Schritt nach vorn gemacht. Und so endete die Sitzung mit dem Gefühl eines neuen Anfangs, der alle Beteiligten mit frischem Mut und Entschlossenheit erfüllte.

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