Elli und Stig Nierast stehen in einem runden Museumsraum, der dem realen Hölderlinturm nachempfunden ist. In der Mitte des Raumes steht ein antiker Schreibtisch, der Hölderlin gehörte, als Museumsexponat. Im Hintergrund steht ein großer antiker Spiegel. Um den Schreibtisch herum auf dem Boden ist ein schimmernder, magisch wirkender Kreis zu sehen, den allerdings Elli und Stig nicht wahrzunehmen scheinen. Elli und Stig wirken nachdenklich und bewundern den Raum, der eine geheimnisvolle und historische Atmosphäre ausstrahlt.

Kapitel 12 – Szene #34

Szene 34. Vergangenheit entdecken – eine Reise in die Welt der Lyrik und Prophezeiungen

Elli drückte sanft gegen die kleine hölzerne Tür der Bursagasse 6, und zu ihrer Überraschung gab sie nach, offenbarte einen schmalen, lichtdurchfluteten Gang. „Wow, das hätte ich nicht erwartet“, flüsterte sie, während sie ihre Augen über die frisch geweißten Wände schweifen ließ.

„Es ist beeindruckend, oder?“, stimmte Stig zu, als er neben ihr eintrat. „Man spürt die Geschichte, aber gleichzeitig haben sie es geschafft, dem Ganzen einen modernen Touch zu verleihen.“

Sie begaben sich in den ersten Raum, wo sie von der ungewöhnlichen Architekturgeschichte des Turms erfuhren. „Es ist schwer vorstellbar, dass der Turm einmal völlig niederbrannte“, bemerkte Elli, als sie auf die Beschreibung des Brandes von 1875 starrte.

„Ja, und trotzdem haben sie es geschafft, die Atmosphäre zu bewahren“, ergänzte Stig und deutete auf den hölzernen Bogen, der das Licht im Raum dämpfte. „Sieh mal, das war früher eine Werkstatt. Die großen Fenster waren damals nur Schießscharten.“

Elli nickte nachdenklich. „Es ist beeindruckend, wie sie versuchen, uns ein Gefühl für die Vergangenheit zu geben.“

Sie setzten ihre Entdeckungsreise fort, vorbei an der Geschichte des Turms, der einst in eine Badeanstalt umgewandelt wurde, und einem schwingenden Metronom, das an Hölderlins Liebe zum Rhythmus erinnerte. „Er hatte wirklich eine einzigartige Art, mit Worten umzugehen“, murmelte Elli, als sie die kleine Wendeltreppe hinaufstiegen.

Im ersten Obergeschoss erwartete sie ein Raum, der Hölderlins Studentenleben gewidmet war. „Hegel und Schelling“, flüsterte Stig, „das waren nicht irgendwelche Freunde. Das waren Philosophen, die die Welt verändert haben.“

„Und trotzdem sind von Hölderlins Werken nur so wenige erhalten geblieben“, sagte Elli, während sie die Faksimiles seiner Aufzeichnungen betrachtete. „Es ist fast so, als ob er zu Lebzeiten nicht die Anerkennung bekommen hat, die er verdient hätte.“

„Aber jetzt sind wir hier, um sein Erbe zu würdigen“, erwiderte Stig, und zusammen betraten sie das Turmzimmer, in dem Hölderlin einst gelebt hatte. „Sieh mal, das ist der Schreibtisch, auf dem er seine Gedichte geschrieben hat. Sie konnten ihn originalgetreu nachbauen.“

Der Raum war bis auf den schmalen, antiken Schreibtisch in der Mitte des Raumes ansonsten weitgehend leer. Trotzdem wirkte er wohnlich und Elli stellte sich vor, wie der Dichter hier viele Stunden lang am Schreibtisch gesessen hatte, um an seinen berühmten Werken zu arbeiten.

Der Boden des Turmzimmers bestand aus alten Holzdielen und die Wände waren in hellem Weiß gestrichen. Durch die großen Sprossenfenster fiel strahlendes Sonnenlicht. An den Wänden hingen mehrere Vitrinen mit originalen Handschriften des Dichters und an einer der Wände hing ein großer Spiegel mit einem kunstvoll verzierten Holzrahmen. Elli stutzte, als sie für einen Moment den Eindruck hatte, ein unwirklicher, perluttfarbener Lichtschimmer würde über den Spiegel gleiten. Vielleicht hatte sich das Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, einen Augenblick lang auf seltsame Weise gebrochen. Elli ging zum Schreibtisch und berührte sanft seine Oberfläche. „Es fühlt sich so real an“, flüsterte sie. „Als ob er gerade eben den Raum verlassen hätte.“

„Und hier“, sagte Elli, als sie zum nächsten Raum gingen, „können wir sehen, wie er die Welt gesehen hat.“ Vor ihnen erstreckte sich eine Virtual-Reality-Installation, die den Blick aus Hölderlins Fenster nachbildete. „Möchtest du es ausprobieren?“

Stig setzte das VR-Headset auf und tauchte in die Welt des 19. Jahrhunderts ein. „Es ist, als wäre ich in der Zeit zurückgereist“, sagte er, seine Stimme voller Ehrfurcht. Als er das Headset abnahm, blickte er Elli mit leuchtenden Augen an. „Das war eindrucksvoll. Ich verstehe jetzt, warum du wolltest, dass wir hierher kommen.“

„Ich dachte, ein solcher Blick in die poetische Vergangenheit könnte nicht schaden, besonders zusammen mit einem Historiker als Ehemann.“, sagte Elli und lachte.

Sie verließen den Turm in tiefem Nachdenken, erfreut über die Gelegenheit, in die Welt eines der größten deutschen Dichter eingetaucht zu sein und seine Gedanken und Gefühle auf so zugängliche Weise zu erlebt zu haben.

Nach dem eindrucksvollen Besuch des Hölderlinturms ging Stig zum Wohnmobil vor. Er wollte mit ihrer Hündin Luna, die dort wartete, schon einmal einen Spaziergang machen. Elli wollte noch zu einer besonderen Buchhandlung, die sie in den Touristeninformationen entdeckt hatte.

Bald darauf spazierte Elli durch die malerischen Gassen Tübingens. In einer schmalen Straße erreichte sie die kleine Buchhandlung in einem uralten, bunt verputzten, mittelalterlichen Fachwerkhaus. Die jahrhundertealten Holzbalken an der Häuserfront waren mit farbigen Inschriften versehen. Neben einem kleinen Sprossenfenster führte eine niedrige, massive Eichentür ins Innere des Ladens. Über dem Eingang hing ein Holzschild mit geschwungener Aufschrift „Lyrik-Oase“. Neugierig betrat Elli diese ungewöhnliche Buchhandlung.

Das Innere war gemütlich und einladend. Die Wände waren bis unter die Decke mit Regalen voller Bücher gefüllt, und in der Mitte des Raumes standen Tische mit ausgewählten Gedichtbänden. Alles hier schien eine Hommage an die Welt der Lyrik zu sein.

„Guten Tag! Kann ich Ihnen helfen?“, erklang eine freundliche Stimme, und Elli drehte sich um, um einen älteren Herrn mit einem warmen Lächeln und strahlenden Augen zu sehen.

„Ich bin Carmelo Hesiod, der Besitzer dieses kleinen Paradieses für Lyrikfreunde.“

Nachdem sie sich vorgestellt und ihr Anliegen erläutert hatte, zog Elli das Büchlein heraus, das sie von der Karmeliten Schwester erhalten hatte. Carmelo blätterte interessiert durch das Buch, bevor er innehielt und Elli bedeutungsvoll ansah.

„Ich glaube, ich weiß, wonach Sie suchen“, sagte er schließlich. „Und ich denke, der beste Ort, um Antworten zu finden, ist die Bibliothek des Evangelischen Stifts.“ Er schrieb Elli den Titel und die Signatur eines Werks auf einen Notizzettel und überreichte ihn ihr.

Mit dieser Empfehlung verließ Elli die Buchhandlung, ihr Herz erfüllt von der Magie der Poesie und dem festen Entschluss, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Die Bibliothek des Evangelischen Stifts Tübingen war ein Ort der Stille und der Gelehrsamkeit, und als sie eintrat, spürte sie sofort die Schwere der Geschichte, die in den alten Büchern und Manuskripten aufbewahrt wurde. Sie ließ sich den alten Folianten aushändigen, den Carmelo ihr empfohlen hatte.

Es handelte sich um einen sehr schweren, alten Folianten mit einer Handschrift einer Bibelübersetzung aus Luthers Zeit. In dem Folianten lagen zahlreiche lose Blätter, die handbeschrieben waren. Vorne im Folianten fand Elli ein rotes Blatt mit dem Hinweis: „Die losen Blätter in diesem Band müssen unbedingt am jeweiligen Platz im Folianten bleiben!“

Dies war ein faszinierendes Werk, besonders durch die vielen Randnotizen in der Handschrift und die losen Blätter, die Kommentare aus späteren Zeiten zu enthalten schienen.

Während Elli die Seiten und losen Blätter mit behandschuhten Händen umblätterte, fand sie schließlich Notizen, die aufgrund ihrer Unterschrift eindeutig von Hölderlin stammen mussten. Er nahm in diesen Notizen unter anderem Bezug auf die Prophezeiung.

In der sanften Stille der Stiftsbibliothek, umgeben von vergilbten Seiten und dem leisen Flüstern vergangener Zeiten, vertiefte sich Elli in die Aufzeichnungen und Kommentare Hölderlins. Ihre Finger strichen behutsam über das Papier, als sie plötzlich auf einen anderen Abschnitt im Folianten stieß – Texte von Martin Luther, begleitet von einer sorgfältigen Abschrift der Prophezeiung und persönlichen Kommentaren.

Mit klopfendem Herzen begann Elli, die alten Schriften zu studieren. Luther hatte sich ebenfalls intensiv mit der Prophezeiung auseinandergesetzt und seine Gedanken und Deutungen unter anderem an den Rand der Hanschrift gekritzelt. Besonders neben dem Text des Hohelieds der Liebe befanden sich zahlreiche Kommentare von ihm. Seine Schrift war fieberhaft und leidenschaftlich, und Elli konnte förmlich spüren, wie tief ihn diese Worte bewegt hatten.

„Das Hohelied der Liebe…“, murmelte Elli, als ihre Augen über Luthers Kommentare glitten. „Er glaubte, dass es der Schlüssel zur Entschlüsselung der Prophezeiung ist.“

Elli spürte, wie sich ein neues Verständnis in ihr zu formen begann. Die Worte des Hohelieds der Liebe, so tiefgründig und rätselhaft, schienen plötzlich in einem neuen Licht zu erscheinen. Sie las Luthers Interpretationen und verglich sie mit den Aufzeichnungen Hölderlins, und langsam begannen die Puzzleteile zusammenzupassen.

„Die Liebe… sie ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Kraft, eine Verbindung, die alles durchdringt. Liebe ist Kommunikation und Resonanz mit der Welt“, flüsterte Elli, ihre Augen leuchteten vor Erkenntnis. „Hölderlin und Luther, sie haben es beide gespürt, diese tiefe, unzerbrechliche Verbindung zu etwas Größerem.“

Mit zitternden Händen machte Elli Notizen, fest entschlossen, dieses neu gewonnene Wissen festzuhalten. Sie spürte, wie sich die Worte in ihr Herz gravierten, eine Botschaft, die sie niemals vergessen würde.

„Die Liebe… sie ist der Schlüssel“, flüsterte sie. „Sie ist das, was uns verbindet, was uns stärkt und was uns letztendlich die Antworten gibt, die wir suchen.“

Elli verbrachte noch einige Zeit in der Bibliothek, vertieft in ihre Entdeckung, bis sie sich von diesen faszinierenden Schriften losreißen musste, da die Öffnungszeit der Bibliothek sich dem Ende zuneigte.

Als sie die Stiftsbibliothek verließ, konnte Elli nicht anders, als ununterbrochen an Hölderlins und Luthers Worte über das „rastlose Wesen“ und die „Liebe“ und „Resonanz“ zu denken. Sie fühlte eine tiefgreifende Übereinstimmung mit diesen alten Worten. „Wir sind alle Teil eines größeren Ganzen“, flüsterte sie leise vor sich hin, inspiriert von Hölderlins tiefem Glauben an die Verbindung aller Dinge.

„Was auch immer die Wahrheit hinter dieser Prophezeiung ist“, murmelte sie, „ich spüre, dass Hölderlin und Luther etwas Wichtiges erkannt haben, etwas, das für die Prophezeiung tatsächlich relevant ist.“

Elli wusste, dass ihre Reise noch nicht zu Ende war, aber sie hatte das Gefühl, einen großen Schritt näher an die Wahrheit herangekommen zu sein.

Mit neu gewonnener Zuversicht machte sie sich auf den Rückweg zum Campingplatz, bereit für die nächste Etappe ihrer Reise.

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