Szene 27. Echos der Wahrheit – Der Psychiatriekongress in Köln
Inmitten der unzähligen, bunten und lebhaften Stände der großen Halle thronte der Infostand der Patientenbewegung wie ein stiller Beobachter. Es war ein einfacher Stand, bescheiden im Vergleich zu den größeren Ständen der Pharmaunternehmen, aber kraftvoll in seiner Botschaft. Banner mit klaren und unverblümten Sprüchen und Slogans schmückten die Vorderseite.
„Wieder bei dir selbst sein – Jenseits der Medikation“, las man in fetten Lettern. Darunter lagen diverse Infoblätter und Bücher zum Thema.
Als Lio, Dimi und Maja den Stand erreichten, kam Elli auf sie zu, gefolgt von Vinoa und Runa.
„Und, wie war dein Vortrag, Maja?“, fragte Elli, ihre Augen voller Neugier und Stolz auf ihre Freundin gerichtet.
Maja lächelte, ein Hauch von Erschöpfung und Erleichterung in ihren Zügen. „Es lief besser als erwartet. Die Leute waren wirklich interessiert an unserer Bewegung ‚Psychiatrie mit Menschlichkeit‘. Ich habe über die Bedeutung von Respekt und individueller Betreuung gesprochen, darüber, dass Medikamente nicht immer die Antwort sind und dass wir eine Gemeinschaft brauchen, die uns unterstützt und versteht, statt uns auszugrenzen.“
Lio nickte und strahlte Maja an. „Das war richtig professionell, Maja! Dimi und ich waren ja unter den Zuschauern, und wir haben mitbekommen, wie konzentriert alle zugehört haben. Es hat mich sehr gefreut, wie souverän du aufgetreten bist und wie gut du unsere Bewegung vertreten hast.“
Dimi klopfte Maja kumpelhaft auf die Schulter und sagte: „Ja, das finde ich auch. Gut, dass du diesen Job übernommen hast. Am Ende gab es viele
interessierte Fragen von den Zuhörern. Besser hätte das nicht laufen können.“
Maja lächelte, hocherfreut über dieses große Lob von Lio und Dimi, und Elli nickte beeindruckt. „Das klingt großartig, Maja. Ich bin stolz auf dich.“
Auch Runa und Vinoa gratulierten Maja, und für einen Moment schienen die düsteren Ereignisse der vergangenen Wochen vergessen, während sie die Gemeinschaft und den Erfolg des Tages feierten.
„Habt ihr euch auch die Podiumsdiskussion mit Timmek angeschaut?“, fragte Elli neugierig.
Dimi nickte beeindruckt. „Ja, die haben wir uns natürlich ebenfalls nicht entgehen lassen. Timmek war wirklich gut. Er sprach über die integrierte Versorgung, wie verschiedene medizinische Einrichtungen miteinander verbunden werden sollten, um Patienten eine umfassende Betreuung zu bieten.“
„Und die Gemeindepsychiatrie?“, warf Runa ein, während sie einige Broschüren ordnete.
Maja nickte zustimmend. „Er betonte, dass die Gemeindepsychiatrie auf der Erkenntnis basiert, wie wichtig es ist, psychisch erkrankte Menschen in der Gemeinschaft zu betreuen und nicht zu isolieren.
Dann diskutierte er die große Bedeutung der sozialen Ursachen psychischer Erkrankungen. Schließlich ging er sogar auch noch auf die Psychopharmaka-Krise ein und darauf, dass manche dieser Medikamente mehr Schaden anrichten, als nutzen. Woraufhin er anmerkte, dass insbesondere die Gemeindepsychiatrie einen geringstmöglichen Medikamenteneinsatz ermöglichen kann.“
„Es wurde auch mehrfach hervorgehoben, dass die Gemeindepsychiatrie hilft, unnötige Klinikaufenthalte zu vermeiden“, ergänzte Dimi begeistert. „Dies ermögliche es nicht nur den Betroffenen, ein menschenwürdigeres Leben zu führen, sondern es sei auch weniger kostenintensiv und insgesamt ressourcenschonend für alle Beteiligten.“
„Wow! Da wurden tatsächlich alle wesentlichen Punkte besprochen, die wir ebenfalls unterschreiben könnten“, sagte Elli, und die Freude darüber war in ihrer Stimme deutlich zu hören.
Lio fügte hinzu: „Aber das Highlight war, als Timmek mit einem Vertreter der Antipsychiatrie diskutierte. Es war intensiv. Sie stellten die Frage, ob die Psychiatrie in ihrer heutigen Form mehr Menschen schadet, als hilft.“
Ellis Augen leuchteten. „Das ist genau die Diskussion, die wir führen wollen. Das Bewusstsein dafür zu schaffen, ist der erste Schritt zur Veränderung.“
Bevor sie fortfahren konnte, trat ein unheimlicher Mann in einem grauen Anzug an ihren Stand. Doch Elli sah mehr als das: Sein massiger Körper schien jegliche Farbe und Wärme aufzusaugen, und hinter der spiegelnden Brille schienen keine Augen zu sein.
„Wissen Sie etwas zum Thema Pharmaskandale?“, fragte er mit einer dunklen Stimme.
Elli, obwohl zutiefst beunruhigt, antwortete bestimmt:
„Wir sind hier, um über die Gemeindepsychiatrie, die integrierte Versorgung und die Antipsychiatrie zu informieren.“
Der Mann verharrte einen Moment und lehnte sich dann vor. „Ich rate Ihnen, sich an Ihre Grenzen zu halten. Es wäre schade, wenn etwas… Unvorhergesehenes passieren würde.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.
Elli fühlte den unheimlichen Druck des Blicks des Mannes und seine flüsternde Stimme, die trotzdem so laut und durchdringend gewesen war, dass sie in ihren Ohren hallte. Ein eisiger Hauch kroch über ihren Rücken, und sie legte ihre Arme fest um sich, als würde das sie schützen. Ihr Blick verlor sich kurz im leeren Raum, die Geräusche der Messe verschwanden zu einem dumpfen Rauschen.
„Wer zum Teufel war das?“, fragte Lio wütend. „So ein Auftreten geht ja wohl gar nicht!“, schimpfte er.
Dimi schüttelte ratlos den Kopf. Fast allen Aktivisten am Stand war die Furcht und Unsicherheit buchstäblich ins Gesicht geschrieben, die sie durch den Besuch des unheimlichen Mannes befallen hatte. Nur Lio schien wenig eingeschüchtert zu sein und blickte aufgebracht in die Richtung, in die der Mann verschwunden war.
„Sein Anzug… und seine Art… das war wirklich seltsam“, murmelte Dimi.
Vinoa rückte nervös ihre Brille zurecht. „Ja, er wirkte irgendwie bedrohlich.“
„Definitiv nicht der Typ, den man hier erwarten würde“, fügte Runa mit unsicherer Stimme hinzu.
In Ellis Kopf war es ein Chaos. Ihr Herz raste, und sie kämpfte darum, die aufsteigenden Schattengedanken zu unterdrücken. Das ist nicht
real, das ist nicht real, versuchte sie sich immer wieder zu sagen. Die Erinnerung an Timmeks Worte bei seinem Überraschungsbesuch bei ihr zu Hause kam ihr in den Sinn, und sie spürte, wie ihre bisherige Weltsicht ins Wanken geriet.
Lios Blicke trafen Elli, deren Augen weit aufgerissen waren. „Elli? Bist du okay?“
Ellis Atmung wurde flacher, sie spürte die ersten Anflüge einer aufkeimenden Panikattacke. „Er… er hat nicht menschlich gewirkt“, flüsterte sie schließlich, während ihr Blick in die Ferne schweifte. „Es war, als hätte sich ein dunkler Schatten über alles gelegt. Es… ich kann es nicht erklären. Meine Schattengedanken… sie sind stärker geworden.“
Lio drückte ihre Hand fester. „Es ist okay, Elli. Das war definitiv jemand, der uns eine Botschaft zu überbringen hatte, und wir ahnen alle, wer ihn geschickt hat. Aber wir haben bisher die Grenzen eingehalten, und wir werden heute keine brisanten Informationen weiterreichen. Wir sollten jetzt nicht
zurückweichen. Wir lassen uns von nichts und niemandem einschüchtern.“
Dimi nickte zustimmend, doch sein Gesicht war kreidebleich, und seine Stimme zitterte, als er sagte:
„Genau. Wir sind hier für einen Zweck. Und wir werden nicht zulassen, dass uns irgendjemand davon abhält.“
Elli versuchte, sich an diesen Gedanken zu klammern, doch die Angst und das Unbehagen ließen sich nicht so leicht abschütteln. Es war, als ob erneut ein Riss in der Realität entstanden wäre, und dieses Mal war das damit verbundene Gefühl besonders durchdringend.
Sie spürte, dass sie aufpassen musste, dass sie nicht den Boden unter den Füßen verlor. Sie griff nach dem Amulett unter ihrem Pullover, und eine innere Gewissheit trat in ihr Bewusstsein, dass Timmek recht hatte und sie eventuell eine große Aufgabe vor sich hatte. Sie musste jetzt sehr stark sein, für sich selbst und für die anderen.
„Wir müssen weitermachen“, sagte sie schließlich, ihre Stimme fest, auch wenn ihre Augen immer noch von Angst getrübt waren. „Wir müssen für das kämpfen, woran wir glauben. Egal, was uns im Weg steht.“
Runa blickte in die Runde, ihr Blick fest, aber auch etwas ängstlich. „Ich hatte vorgeschlagen, dass wir uns abwechseln, damit immer nur drei von uns am Stand sind, aber nach… dem, was gerade passiert ist, denke ich, wir sollten besser alle zusammenbleiben.“
„Ich gebe dir recht“, sagte Lio, seine Hand noch immer in Ellis. „Es fühlt sich bestimmt für alle sicherer an, wenn wir gemeinsam hier sind. Und sollten wir nochmals so eine Begegnung haben, dann können wir uns zumindest gegenseitig beistehen.“
Vinoa nickte zustimmend. „Ich möchte hier jedenfalls nicht alleine am Stand sein. Nicht nach dieser Begegnung. Wir sollten zusammenbleiben.“
Elli atmete tief durch und nickte. „Gemeinsam sind wir ein Leuchtturm in dieser Dunkelheit. Wir halten zusammen und lassen uns nicht unterkriegen.“
Und so geschah es. Sie blieben zusammen am Stand, und der restliche Kongress verlief ohne weitere Zwischenfälle. Trotz der unheimlichen Begegnung fühlten sie sich in ihrer Mission bestärkt und waren entschlossener denn je, für das einzutreten, woran sie glaubten.
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