Szene 36. Ekstase und Erkenntnis – Forschungen zu Zungenreden und Spiritualität
Natalis Schreibtisch ist ein wertvolles Antikmöbel, an dem sie, umgeben von Bücherstapeln, sitzt, die sich wie kleine Türme um sie herum erheben. Ihr Blick ist auf den Bildschirm ihres Laptops gerichtet, auf dem sie recherchiert. Die Stille des Raumes wird nur durch das leise Ticken einer alten Standuhr und das gelegentliche Klacken ihrer Tastatur unterbrochen.
Neben ihrem Laptop liegt ihre Abschrift von Luthers Notizen zu der Prophezeiung, die sie auf so schockierende und überraschende Weise in der Bibliothek gefunden hatte. Obwohl sie mittlerweile zu einer etwas abgeklärteren Einstellung gegenüber dieser Entdeckung gefunden hat, bleibt eine tiefe Verunsicherung in ihr bestehen. Ist es möglich, dass sie in ferner Vergangenheit unbewusst den Text der Prophezeiung in fast wörtlicher Detailtreue in ihrem
Gedächtnis gespeichert hat? Natali seufzt und schüttelt ungläubig den Kopf. Aber wie wäre es sonst möglich, dass sie im Glauben war, die Prophezeiung hätte sie für ihren Roman selbst erfunden, obwohl genau dieser Text der Prophezeiung offensichtlich bereits von Luther vor vielen Jahrhunderten analysiert worden war?
Beim Abschreiben von Luthers Notizen war ihr ein Wort ins Auge gesprungen, das Luther sorgfältig hervorgehoben hatte: „glossai“, aus dem Hohelied der Liebe. Dieses Wort schien wie ein Funke, der ihre Neugier entfacht und sie auf diesen Pfad der Recherche geführt hatte.
Sie erinnert sich, wie Luther in seinen Notizen über die Bedeutung von „glossai“ als Zungen oder Sprachen spekuliert und wie er diese mit der göttlichen Inspiration in Verbindung bringt. Es ist diese Verknüpfung, die sie in die Welt des Zungenredens und der ekstatischen Zustände geführt hat.
Luthers Gedanken über „glossai“ scheinen nicht nur eine historische Fußnote zu sein, sondern ein Tor zu einem tieferen Verständnis der menschlichen Suche nach spiritueller Erfahrung.
Während sie dort sitzt, wird ihr klar, dass Luthers Betonung von „glossai“ mehr als nur eine theologische Analyse ist. Es ist eine Anerkennung der Kraft der Sprache, die Fähigkeit, das Transzendente und Unaussprechliche zu berühren. Dieser Gedanke fasziniert Natali. Es ist, als hätte Luther selbst sie auf eine Reise geschickt, die Jahrhunderte überspannt, um die unergründliche Tiefe menschlicher Spiritualität und Kommunikation zu erforschen.
Sie greift wieder nach dem Notizbuch und fügt hinzu:
„Luther, glossai, Brücke zwischen Himmel und Erde.“ Natali fühlt, dass sie an der Schwelle eines neuen Verständnisses steht, nicht nur für ihren Roman, sondern auch für ihre eigene Wahrnehmung der Welt. Luthers Worte haben eine tiefere Bedeutung entfaltet, die weit über die Seiten alter Schriften hinausgeht
und nun in ihrer eigenen kreativen Arbeit widerhallen könnte.
Sie vertieft sich wieder in ihre Recherchen zu der Welt des Zungenredens, dieser mysteriösen Sprache, die in ekstatischen Momenten gesprochen wird. Es ist ein Phänomen, das sich durch verschiedene Kulturen und Zeiten zieht, von den frühen christlichen Gemeinden bis zu modernen charismatischen Bewegungen.
Natali liest über die Pfingstbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, über Menschen, die in Trance fielen und in unbekannten Sprachen sprachen. Sie stellt sich vor, wie diese Menschen, von einer unsichtbaren Kraft ergriffen, in ekstatischen Zuständen Worte aussprechen, die kein Verstand fassen kann. Es ist eine Welt, die sich so sehr von ihrer eigenen unterscheidet, und doch fühlt sie sich magisch davon angezogen.
Sie liest weiter und stößt auf Berichte von Gelehrten, die dieses Phänomen als Krankheit einstufen, als
Wahnsinn und Hysterie. Natali runzelt die Stirn. Ist es wirklich Wahnsinn, oder ist es ein tiefes, spirituelles Erlebnis, das jenseits des Verständnisses liegt?
Plötzlich fällt ihr Blick auf ein altes Buch, das neben ihrem Laptop liegt. Es ist ein Roman, den sie vor Jahren in einem Buchantiquariat erworben hatte, über eine Frau im Mittelalter, die Visionen hat. Die Protagonistin spricht in Trance Worte, die niemand versteht, und wird von der Kirche verfolgt.
Natali lehnt sich zurück und blickt nachdenklich aus dem Fenster in die Dunkelheit. Sie denkt an Elli, die Protagonistin aus ihrem eigenen Roman, an die Menschen in der Pfingstbewegung und an alle, die durch die Jahrhunderte hindurch in Trance fielen und sprachen. Alle von ihnen suchten nach etwas, vielleicht nach einer Verbindung zu etwas Größerem, etwas, das über die Grenzen der normalen Wahrnehmung hinausging.
In diesem Augenblick spürt Natali eine Verbindung zwischen ihrer eigenen Geschichte und der
Geschichte der Menschheit, zwischen dem Schreiben und dem mystischen Erleben. Vielleicht ist das, was sie als Autorin tut, nicht so verschieden von dem Zungenreden. Beides ist ein Versuch, das Unaussprechliche auszudrücken, eine Reise in das Unbekannte.
Sie tippt ein paar Stichworte in ihr Notizbuch:
„Ekstase, Sprache, Verbindung.“ Dann schließt sie die Augen und lässt ihre Gedanken schweifen, auf der Suche nach der nächsten Szene, dem nächsten Kapitel ihrer Geschichte.
In diesem Moment fühlt sie sich wie eine Brücke zwischen zwei Welten – der realen und der imaginären, der Geschichte und der Gegenwart. Ihre Finger streichen behutsam über das Papier, als ob sie die Verbindung zu diesen Welten spüren könnte. Ein leises Seufzen entweicht ihren Lippen, und sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, den Blick in die Ferne gerichtet.
Noch sind nicht alle Antworten gefunden, aber sie weiß, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Das Ticken der Standuhr hallt durch den Raum, ein sanfter Rhythmus, der sie wieder an ihre Aufgabe erinnert.
Sie steht auf und streckt sich, bereit, das nächste Kapitel ihrer Reise zu beginnen.
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