Szene 44 – Resonanzen der Vergangenheit – eine lyrische Entdeckung
Das Licht des Abends fällt sanft durch die Blätter vor dem Fenster und tanzt auf Natalis Schreibtisch. In ihren Händen hält sie ein altes Tagebuch, ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Einst hätte sie es beinahe vernichtet, doch nun ist es eine wertvolle Quelle der Reflexion, die sie zu ihren eigenen Gedanken und Gedichten zurückführt. Sie schlägt die Seiten auf und bleibt bei dem Gedicht „Ton“ hängen. Leise murmelt sie die ersten Zeilen:
„In dem Gewinde grollender Zeiten
zieht ein weißer Seidenfaden…“
Das Gedicht, das sie als junge Frau geschrieben hat, ist voller überraschend tiefgründiger Symbolik – als hätte sie damals intuitiv versucht, etwas Unsichtbares greifbar zu machen. Es erinnert sie in seiner Grundidee an das Fragment „Im Walde“ von Hölderlin. In beiden Texten geht es um Grenzen und Transzendenz, und letztlich um die Rolle von Kommunikation und Liebe in einem schöpferischen Transformationsprozess. Hölderlins Verse kreisen darüber hinaus deutlich um die Spannung zwischen Geist und Welt, Mensch und Natur – Themen, die nicht nur Natalis Roman, sondern auch ihr eigenes Leben prägen. Oft stürzten sie sie in eine innere Zerrissenheit, manchmal bis an die Grenzen des Erträglichen, besonders in ihren jüngeren Jahren.
Natali seufzt, legt das Tagebuch beiseite und greift nach einem Band mit Hölderlins Gedichten. Ihre Finger blättern durch die Seiten, bis sie die Verse von „Im Walde“ finden. Dieses Gedicht fasziniert sie schon lange, weil es als Ergänzung in einem wichtigen Handschriften-Fragment des Dichters auftaucht und offensichtlich für Hölderlin von großer Bedeutung war.
Seit einiger Zeit hat Natali geplant, dieses Gedicht in die aktuelle Romanszene einzuflechten, an der sie gerade arbeitet. Nachdenklich liest sie die Verse wieder und wieder:
„Aber in Hütten wohnet der Mensch,
und hüllet sich ein ins verschämte Gewand,
denn inniger ist’s, achtsamer auch,
und dass er bewahre den Geist,
wie die Priesterin die himmlische Flamme,
dies ist sein Verstand.“
Natali lässt die Zeilen auf sich wirken. Der Mensch hebt sich aus der Natur heraus, indem er Hütten baut und Kleidung trägt – eine Symbolik der Verbannung aus dem Paradies, ein bewusstes Entfernen von der ursprünglichen Einheit mit der Natur. Durch Kultur, Verstand und Sprache fällt der Mensch aus der kindlichen Naivität, aus einem Zustand der Unschuld. Die Sprache – die Brücke zwischen den Menschen – ist das Medium, das den Geist schützt und ihn zugleich in die Welt bringt. Hölderlin spricht außerdem von der Achtsamkeit, die nötig ist, um den Geist zu bewahren.
Doch diese Zeilen tragen noch eine tiefere Bedeutung in sich: Sie eröffnen einen fast geschichtsphilosophischen Blick. Die Achtsamkeit, die den Geist bewahrt, könnte als Antwort auf die Auflösung von Identitäten und die Selbstentfremdung gesehen werden, die der Mensch auf dem Weg in die Zivilisation erleidet. Die Liebe als vollkommenste Kommunikationsform würde bei dieser Lesart eine Art Gegenpol zur Selbstentfremdung und zum Selbstverlust des modernen Individuums darstellen können.
Die Hütten, die der Mensch in Hölderlins Werk errichtet, sind Orte der Zivilisation, der Reflexion und des Rückzugs – aber auch der Isolation und Trennung von der wilden Natur um ihn herum. Besonders tief berührt Natali jedoch die Metapher der Priesterin, welche die „himmlische Flamme“ bewahrt. Für Hölderlin steht diese Flamme für das Leben, den Geist, die Kommunikation – und vor allem für die Liebe. All das sind Themen, die auch im Mittelpunkt ihres Romans stehen. In romantischer Tradition deutet Hölderlin an, dass der Mensch von der „Meisterin Natur“ gelernt hat, Liebe und Sprache als höchste Formen der Verbindung zu nutzen. Aus ihren Studien weiß Natali, dass Liebe für Hölderlin nicht nur ein Gefühl ist, sondern eine transzendente Kraft – eine Resonanz, die Menschen und Universum verbindet.
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, als sie erneut an ihre jugendlichen poetischen Versuche denkt. Der „weiße Faden“, der sich durch ihr Gedicht „Ton“ zieht, symbolisiert ebenso diese transzendente Verbindung, diese Resonanz von Liebe und Kommunikation. Sie liest weiter in den Versen Hölderlins:
„Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht
zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen,
der Güter gefährlichstes, die Sprache dem Menschen
gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und
untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden,
zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was
er sei geerbt zu haben, gelernt von ihr, ihr
Göttlichstes, die allerhaltende Liebe.“
Der zweite Teil des Gedichts erschließt sich ihr deutlich schwerer, doch Natali erkennt Hölderlins Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen. Diese Zeilen enthalten auch eine Warnung: Sprache, das mächtigste aller Mittel, kann schöpferisch wirken – aber auch zerstören. Der Mensch wird als untergehend und wiederkehrend zur ewig lebenden „Meisterin Mutter“ dargestellt. Hier hebt Hölderlin die Vergänglichkeit des Menschen hervor, aber auch die Möglichkeit der Wiedergeburt. Vielleicht meinen diese Verse, dass durch die kommunikative Weitergabe über Generationen hinweg der Mensch in gewisser Form weiterleben kann. Hölderlin spricht hier auch von der Natur in ihrer zerstörerischen und zugleich schöpferischen Kraft. Der Mensch sollte durch Sprache und Kommunikation von Liebe zeugen oder sie hervorbringen, wie er es von der göttlichen Natur gelernt hat.
Auch in ihrem spielerisch anmutenden Gedicht „Ton“ entdeckt Natali ähnliche Gedanken, wenn auch in einer weniger ausgearbeiteten Form. Sie staunt, dass sie als junge Frau bereits solche Themen berührte, ohne sich dessen ganz bewusst gewesen zu sein.
Mit einem tiefen Atemzug greift Natali zu ihren Notizen und beginnt, ihre Gedanken über Resonanz und die Verbindung zwischen Hölderlin und ihrem eigenen Werk aufzuschreiben.
Natali spürt, wie in Hölderlins Versen die Rastlosigkeit mitschwingt, die auch ihre Protagonistin Elli durchdringt. Eine Bewegung zwischen den Welten, eine Unruhe, die sowohl Mut und Wagnis als auch Achtsamkeit erfordert – auf der Suche nach jenem Licht, das die Dunkelheit durchbricht.
Nachdem sie ihre Notizen beendet hat, lehnt Natali sich zurück und blickt aus dem Fenster. Die Blätter flüstern leise im Wind, und der Abendhimmel wird allmählich von dunklen Tönen überzogen. Die Zeilen von „Im Walde“ hallen in ihrem Kopf nach, und sie spürt eine tiefe Verbundenheit mit dem, was sie durch ihre Arbeit ausdrücken möchte: die alles durchdringende und aber auch in gewisser Weise fragile Schönheit der Liebe, die sich in der Sprache, in der Kommunikation und in der Resonanz zwischen Menschen und Welten offenbart.
Als Natali in den Abendhimmel schaut, erinnert sie sich an jene Nächte im Baumhaus, als sie mit ihrem Vater die Sterne beobachtet hat. Es waren nicht nur die Worte, die sie teilten, sondern auch die Blicke, die Gesten – eine stille, doch tiefgehende Kommunikation, die über die Sprache hinausging. Damals hatte sie gelernt, dass wahre Nähe oft in den Momenten liegt, in denen Worte unnötig werden, weil alles bereits im Einklang schwingt. Während die Sterne am Horizont aufleuchten, spürt Natali, dass diese stille, aber kraftvolle Form der Kommunikation der Schlüssel ist. Es ist die Liebe, die in den Worten und im Schweigen gleichermaßen im Hintergrund schwingt; – Eine Liebe, die Vertrauen und Resonanz schafft, die Welten überbrückt und wie die Sterne in der Nacht die unendlich erscheinende Dunkelheit durchdringt, um alles zu erhellen und miteinander zu verbinden.
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