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Ein grauer Schleier aus Wolken hängt schwer über dem Friedhof und hüllt ihn in eine eigentümliche, drückende Stille. Die Grabsteine, manche überwuchert von Moos, andere schief und rissig, wirken wie stumme Wächter längst vergangener Leben. Der Kies unter den Füßen der Besucher knirscht, nass vom letzten Regen, und der Herbstwind trägt den schwachen Duft von Moder mit sich.
Eine Gruppe Jugendlicher hat sich an einem der ältesten Gräber versammelt. In schwarzen Klamotten und mit düsterem Make-up sitzen sie auf den steinernen Platten, ihre Bewegungen schwerfällig, ihre Stimmen von einer seltsamen Coolness geprägt. Aus einem kleinen Lautsprecher dringt die melancholische Stimme von The Cure – Boys Don’t Cry, begleitet vom Flüstern des Windes.
Die jugendliche Natali steht abseits. Ihr Blick bleibt starr auf ein frisches Grab gerichtet, auf dem noch die Kondolenzkränze liegen, durchweicht vom Herbstregen. Sie trägt ihre typische Gruftie-Punk-Kleidung: ein schwarzes, zerrissenes Kleid, schwere Stiefel und ein Nietenhalsband. Ihre wild gestylten Haare und die schwarz umrandeten Augen passen zu ihrer Clique, doch in ihren grünen Augen liegt etwas, das sie unterscheidet – ein Schmerz, der jede Fassade durchbricht.
In der Mitte des Friedhofs steht sie wie eine verlorene Silhouette vor dem Grab ihrer kürzlich verstorbenen Klassenkameradin Sophie. Der Name ist frisch in den Marmor graviert, die Blumen darauf noch nicht verwelkt. Natali kann nicht fassen, dass sie nie wieder mit Sophie reden, lachen oder streiten wird. Der Gedanke an den Tod, an dieses absolute, endgültige Ende, droht sie zu erdrücken.
Hinter ihr lachen ihre Freunde; ihre Stimmen klingen zu laut für diesen stillen Ort. „Hey, Natali, komm her! Wir haben noch Zigaretten!“ ruft einer der Jungen. Seine Stimme hallt zwischen den Grabsteinen.
Natali zwingt sich zu einem schwachen Lächeln und geht zu ihrer Clique. Sie setzt sich auf eine bröckelige Mauer, nimmt eine Zigarette, doch ihre Gedanken bleiben bei Sophie. „Warum musste sie sterben?“ flüstert sie leise, mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Ein Mädchen mit langen, glatten, schwarz gefärbten Haaren und einem Lack- und Leder-Outfit bemerkt ihre Worte. Sie zieht tief an ihrer Zigarette; der Rauch kräuselt sich in der kalten Luft. „Es ist die harte Realität, Natali,“ sagt sie schließlich und zuckt die Schultern. „Der Tod gehört halt zum Leben dazu. Was willst du machen? Carpe diem und so.“
Natali nickt mechanisch, aber in ihr tobt ein Sturm. Sie kannten Sophie doch auch. Wie können sie nur so gleichgültig wirken? In Natali steigt Wut auf. Was bringt diese Coolness, dieses Verstecken hinter Masken? Sie will schreien, weinen, verzweifeln, irgendetwas tun, um den Schmerz loszuwerden. Doch stattdessen bleibt sie still und zwingt sich, ruhig zu wirken.
Plötzlich wird ihr schwindelig. Es ist, als würde der Boden unter ihr nachgeben. Die Grabsteine um sie herum flackern, ihre Formen verschwimmen für einen Augenblick, und im glatten Marmor eines nahen Grabsteins glaubt sie, Sophies Gesicht zu sehen. Es ist blass und leblos, und ihre Augen scheinen durch Natali hindurchzusehen, als würden sie sie rufen.
„Was ist los mit dir?“ fragt einer der Jungen und schaut sie misstrauisch an. „Du siehst echt blass aus.“
„Nichts, mir ist nur schwindelig,“ murmelt Natali, während sie aufsteht. „Ich brauche frische Luft.“
Sie entfernt sich von der Gruppe und lehnt sich gegen einen alten Baum. Die raue Rinde kratzt an ihrem Rücken, doch sie achtet nicht darauf. Ihr Herz klopft heftig, und sie kämpft gegen die Tränen an. „Sophie,“ flüstert sie leise und schließt die Augen. „Warum musstest du gehen?“
Als sie die Augen wieder öffnet, hat sich die Welt verändert. Die Farben wirken blass, die Geräusche gedämpft, als wäre sie in einen Schleier aus Nebel getreten. Die Grabsteine scheinen sich leicht zu neigen, die Schatten darauf zittern wie Hände, die nach ihr greifen.
„Ich muss hier weg,“ murmelt Natali zu sich selbst und dreht sich um. Sie rennt zurück zu ihrer Clique. „Wir müssen hier weg,“ sagt sie mit zitternder Stimme.
Die anderen lachen. „Was redest du da, Natali? Es ist nur ein Friedhof.“
Doch sie ignoriert das Kichern und die abfälligen Bemerkungen. „Ich muss gehen,“ wiederholt sie entschlossen und wendet sich ab.
Im Weggehen hört sie noch die Stimmen ihrer Freunde, die sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machen. „Die sieht Gespenster!“ Doch sie bleibt nicht stehen.
Der direkte Rückweg führt eigentlich entlang des Flussufers, doch ein inneres Bild drängt sie dazu, einen großen Umweg zu nehmen. In ihrem Geist sieht sie sich selbst bewegungslos in den dunklen Fluten treiben. Ihr Blick ist nach oben gerichtet, zu der glitzernden Wasseroberfläche, die wie eine trügerische Grenze zwischen zwei Welten wirkt. Sie kämpft nicht dagegen an, sondern lässt sich einfach treiben, während sie sich vom Leben verabschiedet.
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