Szene 58 – Altes Wissen in bewahrenden Händen
Kloster Mor Gabriel, Türkei, 13. Jahrhundert
Das flackernde Licht einer einzigen Kerze warf tanzende Schatten an die groben Steinwände der Schreibstube. Der schwere Eichentisch, übersät mit Pergamentrollen, Manuskripten und Tintenfässchen, bildete das Herz des Raumes. Der Duft von geschmolzenem Wachs, Tinte und altem Pergament erfüllte die kühle Luft.
Bruder Iskender, ein alter Mönch mit kahlgeschorenem Kopf und einem langen grauen Bart, saß an seinem Pult. Vor ihm lag eine abgenutzte Rolle Pergament, deren verblassende Schrift die Jahrhunderte überdauert hatte:
die Prophezeiung.
Es war seine Aufgabe, die Worte in frischer Tinte und auf sorgfältig vorbereitetem Pergament für kommende Generationen zu bewahren.
Mit ruhiger Hand führte Iskender eine fein zugeschnittene Gänsefeder, deren Spitze in die dickflüssige, tiefschwarze Eisengallustinte getaucht war. Klare Linien zeichneten sich auf der glatten, leicht aufgerauten Oberfläche des Pergaments ab, das zuvor mit Bimsstein behandelt und bestäubt worden war, um die Tinte gleichmäßig aufzunehmen.
Gelegentlich hielt Iskender inne, um die Feder mit einem kleinen Messer nachzuschärfen. Das leise Schaben unterbrach kurz die Stille, bevor das rhythmische Kratzen der Feder wieder die einzige Melodie im Raum wurde.
Die schwere Holztür öffnete sich leise, und Bruder Petros trat ein. Der junge Mönch, bartlos und voller Ehrfurcht, blieb kurz stehen, bevor er nähertrat. „Du schreibst die Prophezeiung ab, nicht wahr?“ Seine Stimme war leise, fast ein Flüstern, um die feierliche Atmosphäre nicht zu stören.
Iskender nickte, ohne aufzublicken. „Ja, Bruder Petros. Es ist unsere heilige Pflicht, dieses Wissen zu bewahren.“
Petros trat näher und betrachtete die verblassenden Zeichen auf der alten Rolle. „Man sagt, diese Worte könnten eines Tages das Schicksal der Welt verändern. Glaubst du das?“
Iskender hielt inne, legte die Feder sorgfältig ab und sah Petros mit durchdringenden Augen an. „Unsere Aufgabe ist es, Wissen zu bewahren, nicht es zu beurteilen. Ob diese Prophezeiung Wahrheit oder Fiktion ist, wird nicht von uns entschieden.“
Petros runzelte die Stirn. „Aber was, wenn diese Worte in falsche Hände geraten? Wenn sie nicht retten, sondern zerstören?“
Iskender schwieg kurz, sein Blick wanderte zu der flackernden Kerze, deren Licht sich im Tintenfass spiegelte. Schließlich sagte er leise: „Wissen ist weder gut noch böse, Bruder. Die Absicht derer, die es nutzen, bestimmt den helleren oder dunkleren Weg der Geschichte. Unsere Pflicht ist es, das Wissen unversehrt weiterzugeben. Vertrauen wir darauf, dass es seinen Weg findet.“
Petros senkte respektvoll den Kopf, doch Zweifel blieben in seinen Augen.
Nach einigen Minuten der stillen Arbeit sprach Iskender erneut: „Aber du hast recht. Manchmal frage ich mich auch, wer diese Worte eines Tages lesen wird. Welche Augen werden über diese Zeilen gleiten, welche Seelen sie berühren?“
Er setzte den letzten Punkt mit Bedacht, ließ den Federkiel sinken und lehnte sich zurück. Seine Finger strichen sanft über die glatte Oberfläche des neuen Pergaments, als ob er die Worte nicht nur mit Tinte, sondern auch mit seinem Glauben darauf verewigt hätte. Ein melancholisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Wenn diese Prophezeiung auch nur einen Funken Wahrheit enthält, dann wird sie vermutlich entschlüsselt, wenn die Welt am Rande des Abgrunds steht.“
Petros betrachtete das frische Pergament, auf dem die Prophezeiung nun in klaren, kräftigen Linien verewigt war. „Dann bleibt nur zu hoffen, dass die Worte in die richtigen Hände gelangen.“
Iskender nickte und rollte das neue Pergament vorsichtig zusammen. Er versiegelte es in einer schlichten und robusten, doch mit feinen Mustern verzierten Metallröhre – ein Behältnis, geschaffen, um die Worte sicher durch die Zeiten zu tragen. „Mögen diese Worte Rettung bringen, wenn sie gebraucht werden. Das ist alles, was wir hoffen können.“
„Es wird Zeit“, sagte Iskender schließlich. „Wir müssen das Pergament an einen sicheren Ort bringen, bevor die Nacht hereinbricht.“
Gemeinsam verließen die beiden Mönche die Schreibstube.
Das Licht der Kerze war erloschen, und der Raum blieb in Dunkelheit zurück. Doch die Worte der Prophezeiung waren bereit, durch die Zeiten hindurch zu überdauern – ein stiller Wächter des Wissens und der Hoffnung, der vielleicht einen Funken Wahrheit in die ferne Zukunft tragen würde.
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