Ein ruhiges Studierzimmer an einer Universität in einer modernen europäischen Stadt. Natali, eine Frau mit schulterlangem, welligem braunen Haar, trägt eine hellbraune Strickjacke, eine beige Bluse und einen weichen Schal. Sie sitzt allein an einem Holztisch, umgeben von alten Büchern und Notizbüchern. Die warme Beleuchtung und großen Fenster schaffen eine Atmosphäre der Konzentration und Reflexion.

Kapitel 20 – Szene #59

Szene 59 – Bestürzendes Echo aus der Vergangenheit

Die Bibliothek ist in ein gedämpftes Licht getaucht, das durch die hohen Fenster fällt und Staubpartikel in der Luft tanzen lässt. Natali sitzt an einem massiven Holztisch, umgeben von Türmen alter Bücher, deren Einbände die Spuren unzähliger Hände und vergangener Zeiten tragen. Ein fast ehrfürchtiges Schweigen liegt über dem Raum, unterbrochen nur vom gelegentlichen Rascheln von Papier und gedämpften Stimmen im Hintergrund.

Emsig beugt Natali sich über ihr aufgeschlagenes Notizbuch, ihre Hand gleitet flink über die Seiten, während sie gleichzeitig in einem Buch vor ihr blättert. Die Seiten des alten Buchs sind dünn, leicht vergilbt, und knistern leise bei jeder Bewegung. Plötzlich hält sie inne. Ihre Stirn runzelt sich, und sie rückt die Brille auf ihrer Nase zurecht, während ihr Blick auf einer Passage hängen bleibt.

Mit zögernder Neugier nimmt sie das Buch näher heran. Die Worte auf der Seite scheinen sie direkt anzusprechen. Sie blättert einige Seiten zurück, um den Kontext zu verstehen, und ihre Augen weiten sich, als sie den Titel des Artikels erfasst: „Else Lasker-Schüler und die verborgenen Prophezeiungen“.

Ihre Finger zittern leicht, als sie weiterliest. Es ist ein Brief der Dichterin an Ernst Simon, in dem sie auf eine Prophezeiung Bezug nimmt. Die zitierten Worte lassen Natalis Herz schneller schlagen: Es sind dieselben, die sie erst vor Kurzem für ihre Romangeschichte erfunden hat. Wort für Wort.

„Das kann nicht sein“, murmelt sie ungläubig, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie spürt, wie ihr Herzschlag in ihren Ohren hämmert. Sie weiß mit absoluter Sicherheit, dass sie sich diesen Text selbst ausgedacht hat. Es war ein reines Produkt ihrer Fantasie. Und doch stehen diese Worte jetzt vor ihr, schwarz auf weiß, in einem historischen Kontext.

Mit einem erschrockenen Aufschrei springt sie auf. Das Buch in ihren Händen droht zu Boden zu fallen, doch sie hält es fest, als hinge ihre ganze Welt daran. Ihr Atem geht schneller, ihre Gedanken rasen. Sofort schießen Erinnerungen an die Entdeckung eines ähnlichen Kommentars von Martin Luther in ihr hoch – eine Entdeckung, die sie vor wenigen Wochen bereits zutiefst erschüttert hatte. Doch nun, nach der ersten Erschütterung durch Luthers Kommentar, ist es anders. Noch unmittelbarer und eindringlicher. Noch unbegreiflicher.

„Wie kann das sein?“ Ihre Worte hallen in ihrem eigenen Kopf wider. Die Welt um sie herum beginnt zu verschwimmen. Die Regale, die Bücher, die leise Stimmen der anderen Besucher – alles scheint in einen Schleier gehüllt, unwirklich und fern.

Langsam sinkt sie auf ihren Stuhl zurück, ihre Hände klammern sich an das Buch. Die Seiten vor ihr flimmern, als wären sie nicht nur Worte, sondern Portale in eine andere Realität. Was, wenn die Grenzen zwischen ihrer Fiktion und der Realität tatsächlich durchlässig geworden sind? Was, wenn sie selbst Teil einer größeren, unerklärlichen Geschichte ist?

Teil einer Geschichte, die sie selbst schreibt?

Mit zittrigen Händen greift sie nach ihrem Notizbuch und schreibt die Signatur des Buches nieder. Sie weiß, dass sie es erneut studieren muss – doch nicht jetzt. Die Erschütterung ist zu groß. Mit einem letzten Blick auf die Seite schlägt sie das Buch zu, die Worte hallen noch in ihrem Kopf nach.

Als Natali die Bibliothek verlässt, fühlt sich die Welt verändert an. Die Straßen sind dieselben, die Menschen eilen geschäftig an ihr vorbei, doch alles wirkt wie durch einen Schleier gesehen. Die Geräusche der Stadt, das Klappern von Schritten, das entfernte Summen von Gesprächen – alles scheint ihr fremd und vertraut zugleich. Ihre Schritte sind mechanisch, ihr Geist noch immer gefangen zwischen den Zeilen der Prophezeiung.

„Wo enden die Worte?“ denkt sie. „Und wo beginne ich?“

Die Grenzen ihrer Realität scheinen sich aufzulösen, und in ihrem Inneren keimt eine Frage:
Ist sie die Schöpferin ihrer Geschichte – oder ist sie Teil von etwas Größerem, das sie selbst nicht begreifen kann?

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