Szene 61 – Das Dionysische Mysterium – Prophezeiung in der Grotte
Im 2. Jahrhundert v. Chr., verborgen in den felsigen Hügeln Griechenlands, liegt eine Grotte, die den Anhängern des Dionysos als heiliger Ort dient. Die Höhle, mit ihren rauen, kalkweißen Wänden, ist erfüllt von flackerndem Licht, das die Schatten der Versammelten tanzen lässt. Der süße Duft von Wein und Kräutern mischt sich mit der kühlen, feuchten Luft.
Im Zentrum des natürlichen Felsensaals thront auf einem mit Trauben, Lorbeer und Wein gefüllten Altar die Statue des Dionysos. Ein Spalt in der Decke lenkt einen einzigen Sonnenstrahl auf das Antlitz der Statue und verleiht ihr eine göttliche Aura. Um den Altar versammelt stehen Männer und Frauen in groben Leinentuniken, ihre Häupter mit Weinlaubkränzen geschmückt. Ihre Stimmen verschmelzen zu einem vielstimmigen Gesang, begleitet vom rhythmischen Stampfen nackter Füße.
Der Priester, in eine purpurfarbene Robe gehüllt, erhebt seine Arme und spricht mit fester Stimme: „Verehrte Anhänger des Dionysos, der Gott der Ekstase, des Weins und der Wahrheit ruft uns heute zusammen. Öffnet eure Herzen und lauscht den Geheimnissen, die er uns offenbart.“
Die Gemeinde antwortet mit einem durchdringenden, harmonischen Chorgesang, der die Wände der Höhle erzittern lässt. Eine Frau tritt hervor – die Priesterin, mit wildem Haar und einem Blick, der wie durch Welten hindurchzusehen scheint. Ihre Schritte sind schwer, als ob sie von der Last des göttlichen Wissens getragen würden. Sie bleibt vor dem Altar stehen, hebt ihre Arme und beginnt in einer unverständlichen Sprache zu sprechen.
Ihr Körper beginnt leicht zu zittern, als ob eine unsichtbare Kraft durch sie hindurchfließen würde. Ihr Blick, weit geöffnet und gleichzeitig fern, scheint durch die Wände der Höhle in eine andere Welt zu blicken. Ihre Stimme schwankt, mal flüsternd, mal donnernd, während sie die Worte formt, die sie selbst nicht ganz zu verstehen scheint. Ihre Finger strecken sich dabei gelegentlich in einer gebieterischen Geste nach oben, als wollte sie die Wahrheit aus dem Lichtspalt über ihr greifen.
Die Versammelten blicken mit Ehrfurcht und Faszination zur Priesterin. Einige flüstern leise Gebete, andere senken die Köpfe in andächtiger Stille. Die Spannung in der Höhle scheint greifbar, als plötzlich die Stimme der Priesterin klar und durchdringend erklingt:
„Es betritt den Pfad der Heilung … das rastlose Wesen“, hallt ihre Stimme durch die Höhle. „Wenn das dunkle Wesen erwacht und das Gleichgewicht der Welten verletzt, wird das rastlose Wesen erscheinen. Der Schlüssel liegt in den Zeichen der Freundschaft und der Liebe, in sieben Spiegeln, die durch die Zeiten und Orte verstreut sind.“
Als sie geendet hat, sackt die Priesterin wie erschöpft in sich zusammen. Die Versammelten halten den Atem an, einige weichen zurück, andere sinken in Ehrfurcht auf die Knie. Der Priester tritt zur Priesterin, legt ihr eine Hand auf die Schulter und führt sie sanft zur Seite zu einer Bank, auf der sie Erholung finden kann. Mit einer Geste gebietet er der Gemeinde, den Gesang wieder aufzunehmen.
Nachdem die Zeremonie ihren Höhepunkt erreicht hat, ziehen sich der Priester und die Priesterin in eine bescheidene Schreibstube zurück, die an die Grotte grenzt. Der Raum ist spärlich ausgestattet: ein Tisch, einige Kerzen und Papyrusrollen, daneben ein Krug mit Tinte und ein Satz Federn. Der Priester entzündet eine neue Kerze und spricht mit leiser, aber entschlossener Stimme: „Die Worte müssen bewahrt werden, auf dass sie in den Zeiten der Not den Suchenden Licht bringen.“
Die Priesterin nickt, ihr Blick ist fern. „Die Prophezeiung ist klar. Wir müssen sie festhalten, bevor sie in den Nebeln der Ekstase verloren geht.“
Der Priester zögert einen Moment, bevor er sich langsam erhebt und zu einer hölzernen Truhe begibt, die in einer Nische der Schreibstube steht. Mit bedächtiger Bewegung hebt er den kunstvoll geschnitzten Deckel an, und ein leises Knarren erfüllt den Raum. In der Truhe liegt eine Schriftrolle – die Prophezeiung von Kleobis aus Delphi. Der Priester holt sie mit beiden Händen hervor und entfernt den sorgfältigen Umschlag aus Leder, der das kostbare Dokument schützt. Seine Miene ist von Ehrfurcht erfüllt, als er das Schriftstück vorsichtig auf den Tisch legt.
„Es ist so lange her“, murmelt er, während er die Schriftrolle entrollt. „Die Worte des Kleobis … die Prophezeiung, die du gesprochen hast, klingen in seinen Worten wider. Es ist, als ob Kleobis Worte uns rufen.“
Die Priesterin tritt näher, ihre Augen auf die feinen, verblassenden Zeichen gerichtet. „Ich bin tief berührt. Der Text gleicht wirklich meinen Worten. Dies ist ein Zeugnis des göttlichen Mysteriums. Vielleicht ist jetzt der Moment, auf den die Worte von damals gewartet haben“, sagt sie leise. „Wir müssen sie übersetzen. Die Suchenden der Zukunft werden sie nur verstehen, wenn sie in ihrer Sprache niedergeschrieben sind.“
Der Priester nickt und richtet seinen Blick auf die Schriftrolle. „Es ist ein göttlicher Auftrag“, sagt er, während seine Hand sanft über die Pergamentoberfläche fährt. „Diese Worte dürfen nicht verloren gehen. Ihre Bedeutung reicht über unsere Zeit hinaus.“
Der Priester nimmt eine Feder, breitet ein neues Blatt Papyrus vor sich aus und beginnt, die Worte auf das Dokument zu setzen. Mit jedem Strich scheinen die Klänge der Zeremonie nachzuhallen, als ob die göttliche Präsenz in ihren Händen weiterlebt.
Im Raum herrscht eine andächtige Stille. Nur das leise Kratzen der Feder auf dem Papyrus ist zu hören, begleitet vom rhythmischen Tropfen heißer Wachströpfchen, die von der Kerze fallen.
Der Priester hält inne, seine Hand zittert leicht, bevor er mit höchster Konzentration die nächsten Worte niederschreibt. Die Luft ist schwer von Tinten- und Wachsdüften, während das Flackern der Kerzenflamme die Schatten an den Wänden tanzen lässt, als ob die steinernen Wände selbst ihren Worten lauschen würden.
Vor ihnen liegt die altehrwürdige Schriftrolle aus Delphi, auf der die ursprüngliche Prophezeiung von Kleobis festgehalten ist. Mit tiefem Respekt beginnen sie, die alten Worte ins Koine-Griechisch zu übertragen, behutsam, als ob jede Zeile ein Funke göttlicher Wahrheit wäre.
Die Feder des Priesters hält erneut inne, als seine Augen über die Worte der alten Prophezeiung gleiten. Mit leiser Stimme spricht er: „Das Wort glossai … es scheint hier mehr als nur Sprache zu bedeuten. Es ist wie ein Echo, das durch die Welten trägt.“
Die Priesterin, deren Blick ebenfalls konzentriert auf der Papyrusrolle ruht, ergänzt: „Ich glaube, dies ist vielleicht so etwas wie die Ekstase der Zungen im Enthusiasmos, wenn wir von Gott inspiriert sind.“ Sie wendet sich dem Priester zu, aber ihr Blick scheint noch immer fern und enthoben. „Es ist die Gabe, das Unsagbare zu sprechen, die Verbindung zwischen den Welten zu knüpfen. Hier könnte ein Schlüssel zur Essenz der Prophezeiung liegen.“
Der Priester nickt langsam, bevor er mit einem feierlichen Tonfall hinzufügt: „Diese Worte sind ein Leuchtfeuer für kommende Generationen. Mögen sie bewahrt werden, bis die Dunkelheit die Welt umhüllt und die Zeit der Wahrheit anbricht.“
Auch der Blick der Priesterin folgt immer wieder den Zeilen der Prophezeiung, und ihre Finger schweben dabei behutsam über der alten Schriftrolle, als wollte sie damit zusätzlich die Bedeutung von Kleobis Worten erspüren. Dann macht sie eine Pause und blickt gedankenversunken in das flackernde Licht der Kerze. „Die sieben Spiegel …“, murmelt sie leise. „Was könnten sie sein? Sind es Orte, Menschen oder Momente? Vielleicht Spiegel der Seele, die in der Dunkelheit leuchten?“
Der Priester hatte sich inzwischen wieder intensiv dem Schreiben gewidmet. Nun blickt er erneut auf, seine Stirn in Falten gelegt und fügt fragend hinzu: „Und die Zeichen der Freundschaft und der Liebe?“ Er presst die Lippen aufeinander und schüttelt nachdenklich den Kopf. „Der Sinn dieser Botschaft bleibt uns verschlossen. Doch diese Worte tragen Hoffnung in sich, obwohl sie wie ein Rätsel vor uns liegen. Mögen die Suchenden die Antworten finden, wenn ihre Zeit anbricht.“
Als der Priester die letzten Worte niedergeschrieben hat, senken beide ihre Köpfe in stillem Gebet.
„Mögen diese Worte den Suchenden Weg und Hoffnung sein“, flüstert die Priesterin erneut.
Nachdem er die alte Schriftrolle aus Delphi behutsam in ihren kostbaren Behälter zurückgelegt hat, rollt der Priester die soeben angefertigte Schrift sorgsam zusammen. Er versiegelt sie mit einem Tropfen Wachs und legt sie in eine schlichte und doch sorgfältig geschnitzte Holztruhe.
Die Truhe ist mit feinen Mustern verziert, die die Essenz des Dionysischen Mysteriums einfangen. Die geschnitzten Trauben und Lorbeerblätter scheinen im flackernden Licht der Kerze lebendig zu werden. Der Priester lässt seine Finger kurz über das Holz gleiten, bevor er die Truhe mit einem leisen Seufzer schließt. „Möge ihr Inhalt bewahrt bleiben, bis die Zeit reif ist.“
Gemeinsam verlassen sie die Schreibstube und werfen einen letzten Blick zurück. Die Grotte ruht still, doch die beiden sind erfüllt von einer göttlichen Gewissheit: Die Worte, die sie in dieser Nacht bewahrt haben, tragen die Essenz des Dionysos und die Verheißung auf Heilung in sich – ein Vermächtnis für die Ewigkeit.
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