Eine surreal und atmosphärisch beleuchtete Szene zeigt Elli Nierast, eine Frau Mitte 30 mit kurzen, zerzausten schwarzen Haaren und leicht gothischem Stil, in einem schallisolierten Raum. Sie steht vor einem großen, türgroßen Spiegel, der mit leuchtenden, schimmernden Mustern in Regenbogenfarben strahlt. Ihre Mimik drückt Überraschung und Furcht aus, während ihre leicht geöffnete Hand ein geheimnisvolles, irisierendes Licht ausstrahlt. Im Hintergrund befinden sich moderne Computertechnik und individuell gestaltete Geräte, die auf ihre Tätigkeit im Bereich Cybersecurity hinweisen. Die Umgebung ist in gedämpften Lichttönen gehalten, was die mystische und spannungsvolle Atmosphäre unterstreicht.

Kapitel 21 – Szene #62

Szene 62 – Schicksalsspiegelungen – Elli am Rand der Realität

In der gedämpften Beleuchtung ihres Rabbit Holes, umgeben von chaotisch gestapelten Büchern und technischen Geräten, stand Elli vor einem großen Spiegel, der schweigend an der Wand lehnte. Ihre Augen ruhten auf dem glatten Glas, während auf dem PC-Bildschirm hinter ihr der Avatar von Kryfós im Chatfenster flackerte.

„Bist du bereit, Alice?“, ertönte Kryfós’ Stimme durch die Tonverbindung. Der Klang war zur Anonymisierung moduliert, dennoch lag ein seltsamer Mix aus Spott und Sorge in seiner Stimme.

Elli verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln. „Ich bin keine Alice, und das hier ist kein Wunderland.“

Ihre Finger umklammerten den kleinen Ammolit-Anhänger, der an ihrer Halskette neben dem alten Amulett hing. Die Maserungen des Steins fühlten sich lebendig an, als ob sie sich unter ihrer Berührung bewegen würden.

„Dann lass uns dieses Märchen beginnen“, sagte Kryfós, und sein Tonfall wurde ernst.

Elli nickte kaum merklich und holte tief Luft. Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Anhänger umfasste, der sich unerwartet kühl anfühlte. Sie begann, die Verse aus dem Hohelied der Liebe auf Deutsch zu rezitieren, ihre Stimme leise, aber klar.

Nichts geschah. Das Echo ihrer Worte verklang, und der Raum blieb still.

„Versuch es auf Griechisch, kleine Eule“, schlug Kryfós vor, ein leises Lachen in seiner Stimme, das jedoch die Anspannung nicht ganz verbarg.

Elli schnaubte. „Das ist kein Spiel,“ murmelte sie, konzentrierte sich jedoch und begann, den ersten Vers in altgriechischer Sprache zu sprechen.

Kaum hatte sie das Wort glossai ausgesprochen, lief ein Kribbeln von ihrer Hand durch ihren Körper. Der Anhänger begann schwach zu glühen, ein inneres Licht, das pulsierend an Intensität gewann.

„Siehst du das?“, fragte Elli, ihren Blick auf den Anhänger gerichtet.

„Ich sehe nur Störungen“, erwiderte Kryfós, seine Stimme klang verunsichert.

Elli sprach weiter, ihre Stimme wurde fester. Der Raum um sie herum begann zu flimmern, als ob die Luft selbst in Schwingung geriet. Der Spiegel vor ihr leuchtete auf, seine Oberfläche schien in den Farben des Ammolits zu flackern. Schließlich verblasste ihr Spiegelbild, und an seiner Stelle entstand ein Tunnel – eine gähnende Öffnung, die sich in die Tiefe erstreckte.

„Elli, was passiert da?“, fragte Kryfós, zunehmend besorgt. „Ich verliere die Verbindung!“

Ellis Atem stockte. Der Tunnel schien gleichzeitig greifbar und unwirklich, als würde er in einer Dimension jenseits ihrer Wahrnehmung existieren. Ihre Hand streckte sich zögernd aus – doch anstatt auf die vertraut kühle Oberfläche des Spiegels zu treffen, glitt sie hindurch, als wäre das Glas geschmolzen. Ihre Finger drangen in die schimmernde Öffnung ein, und ein seltsames, flirrendes Gefühl lief durch ihre Haut, als ob der Raum hinter dem Tunnel sie berührte.

Ein Schauder lief über ihren Rücken, und das Verlangen, den Tunnel zu betreten, kämpfte gegen das überwältigende Entsetzen in ihr. Ein leises Summen erfüllte ihre Ohren, und in der Ferne schien sie flüsternde Stimmen zu hören – fremd, aber doch vertraut.

Plötzlich verstummte Kryfós’ Stimme. Elli drehte sich um – der Bildschirm zeigte nur Rauschen. Panik kroch in ihr hoch. Als sie sich wieder dem Spiegel zuwandte, war der Tunnel immer noch da, realer als alles, was sie je gesehen hatte.

Ihre Hand schwebte zitternd in der Luft, wo einst der Spiegel gewesen war. Ein leichtes Ziehen – ein sanfter, aber unaufhaltsamer Sog – umgab ihren Arm, als ob der Tunnel sie einladen würde, einzutreten. Sie zog ihre Hand hastig zurück, ihre Finger prickelten, als ob sie durch eine unbekannte Energie berührt worden wären.

Ellis Atem ging stoßweise, und sie fühlte, wie ihr Herz immer schneller schlug. Ein Teil von ihr wollte unbedingt hindurchtreten, während ein anderer Teil sie mit aller Macht zurückhielt. Sie kämpfte mit all ihrem Willen gegen den Drang, über die Schwelle in den düsteren Tunnel zu treten. Der Sog wurde stärker, der Tunnel schien nach ihr zu greifen, doch schließlich zwang Elli sich, einen Schritt zurückzutreten. Ihr Zögern hatte die Oberhand gewonnen. Mit einem Ruck riss sie sich erneut los und trat einen weiteren Schritt zurück. Der Tunnel begann zu verblassen, und nach und nach erschien wieder ihr Spiegelbild. Sie sah sich selbst an – ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Augen weit aufgerissen vor Entsetzen.

„Elli? Hörst du mich? Was ist passiert?“, kam Kryfós’ Stimme wieder durch den Raum, diesmal mit einem Unterton aus Angst.

Elli starrte auf den Spiegel, unfähig zu antworten. Ihr Blick fiel auf die Oberfläche, die nun wieder völlig normal wirkte, als sei nichts geschehen. Doch sie wusste, dass dies nicht die Wahrheit war. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass die Schwelle, die sie berührt hatte, alles andere als eine Illusion gewesen war.

Langsam fand sie ihre Stimme wieder und berichtete Kryfós von dem Erlebten. Seine ruhigen, rationalen Worte halfen ihr, sich zu sammeln, doch der Sturm in ihr ließ sich nicht so leicht bändigen.

„Es war, als würde ich hineingerufen. Aber ich … ich konnte nicht hindurchgehen“, flüsterte sie. „Doch ich weiß, dass es der nächste Schritt sein muss. Egal wie beängstigend es ist.“

Kryfós’ Reaktion zeigte Verständnis und Sorge. Auch er schien frappiert über Ellis Erlebnis, doch sie konnte nicht recht einschätzen, wie viel er ihr glaubte.

„Elli, egal was passiert, ich bin hier. Wir werden einen Weg finden, das zu verstehen. Zusammen“, sagte er, und sie meinte ein leichtes Zittern in seiner Stimme wahrzunehmen.

Elli nickte, während sie die Tränen zurückhielt. Sie spürte nun mit unerschütterlicher Gewissheit, dass sie am Rande einer neuen Welt stand, an der Schwelle zu etwas Unerklärlichem.

Und tief in ihrem Inneren wusste sie: Es gab keinen Weg zurück.

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