Szene 17. Verbündete im Schatten – Ein Blick in die Dunkelheit
Dimis Wohnung war für viele ein Refugium. Eingebettet in einem Altbau in Köln, spiegelten die Räume nicht nur seine Profession als Fachinformatiker wider, sondern auch seine vielschichtige Persönlichkeit. Die Regale waren gefüllt mit technologischen Büchern und gleich daneben stand eine beeindruckende Sammlung von Vintage-Videospielen. Dieser Mix aus Modernität und Nostalgie war Dimi durch und durch.
An der Wand hing ein großes Gemälde, das ein Küstendorf in Griechenland darstellte – ein Hinweis auf seine Wurzeln und die Geschichten seiner Großmutter, die ihm die Kunst des griechischen Kochens beigebracht hatte.
Elli konnte den angenehmen Duft von Moussaka riechen, als sie die Wohnung betrat. Sie lächelte Dimi zu und bemerkte die Videospielkonsole, die neben dem Fernseher lag.
„Alte Spiele wieder am Laufen?“, fragte sie schmunzelnd.
Dimi lachte. „Ja, manchmal ist es schön, in die Vergangenheit zu reisen und die guten alten Zeiten zu erleben.“
Trotz des großen Trubels, den sie beim Gartenfest zu ihrem 35. Geburtstag erlebt hatte, war Elli froh, endlich wieder jemanden aus ihrem Freundeskreis persönlich zu treffen. Bis auf die wenigen Ausnahmen, die sich zum Beispiel bei Familienfeiern boten, hatte sich in den letzten Jahren ihr gesamtes Leben in großem Maß in den virtuellen Raum verschoben, beruflich und auch privat, und sie empfand deshalb eine Sehnsucht nach persönlichen Kontakten in der „realen“ Welt.
Zu den Gründen für Ellis zunehmend isoliertes Leben gehörten sicherlich die Pandemie in Kombination mit den großen Stressymptomen, die bei Elli häufig mit Sozialkontakten verbunden waren. Bei Freunden wie Dimitrios fühlte sie sich jedoch erstaunlich wohl. Seine Wohnung war gemütlich, aber schlicht eingerichtet. Ein paar gerahmte Zeitschriftenausschnitte hingen an der Wand, alle mit Schlagzeilen zur antipsychiatrischen Patientenbewegung „Psychiatrie mit Menschlichkeit“.
Eine ruhige Jazzmelodie spielte im Hintergrund. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit einem großen Stapel frisch gedruckter Flyer, es waren die Flyer, die Dimi und Elli heute falten wollten.
Nachdem Elli sich zu einer ordentlichen Portion Moussaka hatte überreden lassen, saßen nun beide gesättigt und mit guter Laune am Tisch und falteten Flyer für die Patientenbewegung.
Elli lehnte sich zurück und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Weißt du noch, Dimi, als wir uns in Timmeks Gruppensitzung kennengelernt haben? Ich hätte nie gedacht, dass wir eines Tages gemeinsam für diese Sache kämpfen würden.“
Dimi lachte. „Ja, das war eine seltsame Fügung des Schicksals. Aber jetzt sind wir hier, und ich bin froh, dass wir an derselben Front kämpfen.“
Elli nickte. „Es geht um so viel. Es geht um Mitmenschlichkeit, um Verständnis, um das Recht, als Patient respektiert und verstanden zu werden. Und nicht nur als eine Nummer in einem System, das sich oft nicht um das Wohl des Einzelnen schert.“
Dimi hob einen der Flyer hoch und las laut vor: „‘Für eine Psychiatrie mit Menschlichkeit – Weg mit den Fesseln des Systems!’ Das bringt es auf den Punkt.“
Elli musterte Dimitrios für einen Moment, ihr Blick ruhte auf den tiefbraunen Augen, die heute besonders nachdenklich wirkten. „Dimi, ich habe bemerkt, dass du oft diese entfernte Miene aufsetzt, als ob du in eine andere Zeit eintauchen würdest. Alte Erinnerungen?“
Dimitrios lächelte schwach und nickte. „Es sind Momente, in denen ich an meine Großmutter denke. Sie hat mir das Kochen beigebracht und mich in die Geheimnisse der griechischen Küche eingeweiht. Wenn ich mich überfordert oder verloren fühle, erinnere ich mich daran, wie sie ihre Hände liebevoll über die Zutaten legte und mir sagte, dass jedes Gericht eine Geschichte erzählt.“
Elli lächelte zurück und spielte mit einem der Flyer auf dem Tisch. „Manchmal wünschte ich, ich hätte so erdende Erinnerungen. Meine sind oft von Angst getränkt. Es ist diese ständige Angst, die mich im Griff hält, die mich in die digitale Welt flüchten lässt. Aber ich habe auch Momente der Klarheit, Momente, in denen ich mich erinnere, warum ich das alles mache. Es ist dieses unermüdliche Bedürfnis, etwas in der Welt zu bewegen, etwas zu heilen.“
Dimi schmunzelte leicht und schaute zu den gerahmten Zeitschriftenausschnitten. „Weißt du, manchmal trage ich unter meinem Hemd ein Comic-T-Shirt. Es erinnert mich daran, nicht alles zu ernst zu nehmen, auch wenn die Themen, für die wir kämpfen, so schwerwiegend sind.“
Elli lachte. „Du und deine geheimen Comic-T-Shirts. Und ich dachte, ich wäre die Einzige mit merkwürdigen Angewohnheiten. Wusstest du, dass ich eine Sammlung von Füllfederhaltern habe? Es gibt etwas Beruhigendes daran, Gedanken auf Papier zu bringen. Nicht digital, sondern handgeschrieben.“
Dimi neigte den Kopf zur Seite. „Das überrascht mich nicht. Es ist dieses Streben nach Authentizität, dieses Bedürfnis, die Dinge greifbar zu machen in einer digitalen Welt.“
Für einen Moment verloren sich beide in ihren Gedanken, eingehüllt in die ruhige Jazzmelodie und die Wärme der Wohnung.
Nach einiger Zeit zögerte Dimi einen Moment und schaute Elli bedeutungsvoll an. „Es gibt etwas, was du wissen solltest.” Er zögerte, so als ob er nicht sicher war, ob er es ihr überhaupt sagen sollte. Dann fuhr er fort: ”Vinoa und Runa haben mir eine seltsame Geschichte erzählt.”
Elli neigte den Kopf zur Seite, ihre Neugier war geweckt. “Was denn?” Dimi zögerte erneut und biss sich auf die Unterlippe, dann sagte er: “Anscheinend hatten sie einen ChatGPT-Chat, der anders als sonst verlief. Es war, als ob jemand anderes, eine reale Person, den Chat kontrollierte. Und dieser Jemand gab Hinweise auf Informationen, die MedüX Pharma nicht öffentlich machen will.”
Ellis Augen weiteten sich. “Das klingt verrückt und gleichzeitig… bedrohlich. Was für Informationen?”
Dimi stand auf und ging ein paar Mal nervös auf und ab: “Das wissen sie noch nicht genau. Aber es könnte mit unserer Recherche zu den Studienergebnissen zu tun haben, die vertuscht wurden. Runa und Vinoa versuchen herauszufinden, wer hinter diesem Chat steckt.”
Elli nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas und schnaufte leicht: “Meine Güte! Das klingt nach einer brisanten Geschichte. Wir müssen vorsichtig sein. Und du weißt, Lio und ich könnten mit unseren Fähigkeiten vielleicht helfen, wenn es um Cyber-Security geht.”
Dimi nickte: “Du weißt ja: Runa kennt sich in dem Bereich auch ganz gut aus. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass für Runa und Vinoa in dieser Geschichte guter Rat teuer ist. Ich werde ihnen sagen, dass Du Bescheid weißt und ihr helfen könntet.” Er warf ihr einen dankbaren Blick zu und sagte: “Danke, Elli. Es ist gut zu wissen, dass wir nicht allein sind.”
Elli nickte. “Wir sind eine Bewegung. Und wir werden herausfinden, was MedüX Pharma zu verbergen hat.” Dimis Miene wurde noch ernster als zuvor. „Ich fürchte das Ganze ist … gefährlich, Elli. Wenn das herauskommt, könnten sie alles tun, um die Beteiligten zum Schweigen zu bringen.“
Elli nickte. „Das ist mir bewusst. Aber, falls sich diese Geschichte als wahr herausstellt, wäre es mehr als ein Skandal. Das wäre eine Unglaublichkeit! Es wäre ein bösartiger Betrug, der verletzlichen, notleidenden Menschen angetan würde! Wir können bei so einem Verdacht doch nicht einfach wegschauen. Nicht nach allem, was wir erlebt haben. Und nicht, wenn es so viele Menschen betrifft.“
Dimi setzte sich wieder an seinen Platz. Bevor er sich wieder der Arbeit zuwendete, sagte er: „Elli, du hast immer dieses unermüdliche Bedürfnis, jedem zu helfen und jeden zu retten. Aber manchmal, indem wir versuchen, alles für andere zu sein, verlieren wir uns selbst. Wie ein frisch entzündetes Feuer, ein Funke, der zu schnell um sich greifen will und dem dafür aber die Nahrung ausgeht und er erlischt.“
Nachdem er das gesagt hatte, schüttelte er ein wenig den Kopf und schien nachzudenken. Schließlich blickte er sie direkt an, beugte sich über den Tisch und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Egal, was passiert, ich stehe an deiner Seite.“
Elli nickte ernst. Dann wendeten sie sich wieder ihrer Arbeit an den Flyern zu, fest entschlossen, gemeinsam für das Richtige zu kämpfen, wie gefährlich der Weg auch sein mochte.
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