Elli, eine zierliche Frau mit kurzen, struppigen schwarzen Haaren und grünen Augen, steht auf einem friedlichen Frühlingsfriedhof unter einem mächtigen, moosbewachsenen Baum. Sie blickt etwas ängstlich verwundert. Im Hintergrund steht Timmek, ein Mann Mitte 60 mit silbernem Lockenhaar und gepflegtem grauem Vollbart, der nachdenklich aussieht. Sonnenstrahlen durchbrechen das dichte Laubwerk, werfen Lichtmuster auf den Boden und erzeugen eine verträumte, mystische Atmosphäre. Im Hintergrund sind Grabsteine und blühende Blumen zu sehen, die die Szenerie abrunden.

Kapitel 18 – Szene #54

Szene 54 – Mysterien und Entscheidungen – Eine Begegnung mit Timmek

Elli wartete unruhig am Eingang des Melaten-Friedhofs in Köln. Das Frühlingswetter malte lebhafte Farben um sie herum, ein schroffer Kontrast zu den stillen Zeugen der Vergangenheit, die sich in den Grabsteinen manifestierten.

Über dem großen Eingangstor prangte die Inschrift: „FVNERIBVS / AGRIPPINENSIVM / SACER LOCVS“. Stig hatte ihr einmal die Inschrift bei einem gemeinsamen Besuch übersetzt: „Ein geweihter Ort für die Beerdigungen der Kölner“. Dann hatte er ihr von den schauerlichen Geschichten dieses Ortes erzählt.

Die friedliche Szenerie mit ihren alten Bäumen und dem Gesang der Vögel stand im starken Gegensatz zur dunklen Vergangenheit des Friedhofs. Die Grabsteine ragten wie stumme Wächter in die klare Frühlingsluft. Einige waren mit grünem Moos überzogen, das die Inschriften teilweise verdeckte, als wollte es die Namen der Verstorbenen vor der Zeit bewahren.

Die alten Bäume schufen ein dichtes Blätterdach, durch das die Sonnenstrahlen wie schmale Lichtfinger fielen, und der leichte Wind ließ die Schatten auf dem Boden tanzen, als wären sie lebendig. Es war ein Ort, der Frieden ausstrahlte, aber auch eine hintergründige Beseeltheit, verbunden mit tiefer Melancholie – und mit einem ständigen Flüstern der Geschichte, immer wieder unterbrochen von stummen Erinnerungs-Rufen der Vergänglichkeit.

Als Elli wartend vor dem Gelände stand und ihren Blick schweifen ließ, fühlte sie eine seltsame Verbindung zu diesem Ort, als ob jeden Augenblick die ruhigen und die unruhigen Seelen der Verstorbenen mit ihr in Verbindung treten könnten.

Ellis Gedanken kehrten zu dem überraschenden Anruf von Timmek Lichtschein zurück, der vorgeschlagen hatte, sich hier zu treffen, anstatt in seiner Praxis. Das war wieder solch ein Überraschungsmoment, wie damals bei seinem plötzlichen Besuch bei ihr Zuhause. Und es war ein leicht irritierendes Verhalten, das sie in all den vergangenen Jahren nicht bei ihm gekannt hatte.

Gerade, als sie an ihn gedacht hatte, erschrak sie plötzlich, als Timmeks Stimme direkt neben ihr erklang. Sie hatte seine Annäherung nicht bemerkt. Elli blinzelte. Für einen Moment schien es, als würde Timmeks Silhouette im gleißenden Licht flirren, als wäre er nur eine flüchtige Projektion, die sich kaum in der Realität halten könnte.

Timmek machte ein paar Schritte auf Elli zu, und sein Gang war dabei so leise, dass es mehr wie eine Erinnerung an Schritte wirkte. Ihr fiel auf, dass plötzlich alle Vögel in der Umgebung verstummt waren, als er seine Stimme erhob, als ob sie ihren Gesang unterbrachen, um seiner sanften, gedämpften Stimme zu lauschen.

Timmek machte eine einladende Geste in Richtung des Friedhofsgeländes. „Elli, das ist ausgezeichnet, Sie endlich wiederzusehen. Sollen wir?“, fragte er ruhig. Sie nickte, immer noch leicht überrascht von seinem unvermittelten Auftauchen.

Dann begannen die beiden ihren Spaziergang über den Friedhof, und Timmek bat sie, von ihren jüngsten Entdeckungen zu berichten. Elli erzählte von dem Amulett und den Rätseln, die sich darum rankten. Während sie sprach, pulsierte das Amulett sanft, als ob es ihre Worte bestätigte.

In Elli stieg wieder einmal das verunsichernde Gefühl auf, sie befände sich nicht in der Realität, sondern in einem Traum.

Das Sonnenlicht schimmerte übermäßig hell und klar, der strahlend blaue Himmel und die Farben der Frühlingsblumen leuchteten in intensiver, fast unwirklicher Pracht. Das Gefühl der Unwirklichkeit verstärkte sich, als Timmek immer wieder auf überraschende Weise verschwand, ohne dass sie sein Weggehen bemerkt hatte.

Einmal stand er plötzlich einige Meter entfernt vor einer mächtigen, uralten Buche und legte seine Hand bewundernd auf den Stamm, während er Elli weiter zuhörte und nickte.

Ein anderes Mal saß er unerwartet auf einer Parkbank, zurückgelehnt, die Augen geschlossen, als würde er die Sonne genießen, obwohl er noch wenige Sekunden zuvor an einer ganz anderen Stelle den Weg entlang geschlendert war.

Doch immer, wenn sie sich zu wundern begann, befand er sich wieder an einem plausiblen Ort, und ihre Verwunderung verschwand ebenso schnell, wie sie aufgetreten war. Die meiste Zeit jedoch lief Timmek neben ihr, hörte aufmerksam zu und ermunterte sie, weiter zu berichten.

Als sie von Hölderlins Versteck und dem weiteren Anhänger erzählte, den sie dort gefunden hatte, stutzte Timmek überrascht. Er sagte kurz: „Aha, ach so … das ist nun wirklich interessant!“ Dann wurde er sehr nachdenklich. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und schien einige Zeit lang intensiv zu überlegen.

Schließlich wendete Timmek sich mit einer ungewöhnlichen Intensität in seiner Stimme an Elli. „Ich denke wirklich, es ist kein Zufall, dass Sie diesen Anhänger gefunden haben, Elli. Ihre Entdeckungen sind ein klares Zeichen dafür, dass Sie eine zentrale Rolle in dieser Geschichte spielen müssen. Können Sie mir mehr von Ihrem Erlebnis am Hölderlinturm berichten?“

Elli erzählte weiter von Hölderlins Notizen und der Eule, die dem Dichter den Anhänger gebracht hatte. Timmek hörte aufmerksam zu, und sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen tiefer Nachdenklichkeit und einer Art stiller Zustimmung. „Sie sollten versuchen, eine Spiegelpforte zu öffnen“, sagte er schließlich. „Das ist der Schlüssel zu Ihrer Rolle in dieser Geschichte.“ Seine Stimme war fest, aber sanft, als wolle er ihre Zweifel zerstreuen.

Elli, noch immer leicht verunsichert von der surrealen Atmosphäre des Gesprächs, nickte zögernd.

Während Timmek sprach, spürte Elli, wie sich die Realität unter ihren Füßen verschob. Ihre Zweifel, ihre Unsicherheiten – all das schien sich in vage flackernden Wellen durch ihr Bewusstsein zu bewegen, wie das Licht, das sich seltsam flimmernd auf Timmeks Gesicht brach. Sie wollte ihm vertrauen, doch die absolut unwirkliche Dimension und die Schwere seiner Worte, verbunden mit der Bedeutung seiner dringenden, fast drängenden Aufforderung, fühlten sich an wie ein fester Schleier aus Unsicherheit, der sich um sie legte.

Trotzdem wuchs durch das seit Jahren gefestigte Vertrauen zu ihm, durch seine beruhigenden Worte und auch durch die Dringlichkeit seiner Bitte in ihr ein Funke von Aufbruchstimmung. Zunächst war dieser Funke klein, aber sein Leuchten war eindringlich, wie ein Licht, das durch den Spalt einer fast verschlossenen Tür fiel.

Timmek räusperte sich leise und riss Elli aus ihren Gedanken. Sie blickte zu ihm und das Sonnenlicht, das ihn umgab, schien wieder für einen Moment zu flackern. „Elli, Sie wissen, ich bin nicht von dieser Welt“, sagte er leise, aber bestimmt, und blickte ihr tief in die Augen. Sie hielt unwillkürlich den Atem an, als er weitersprach. „Ich kann verstehen, dass dies alles unglaublich klingt – und doch ist es die Wahrheit. Die Entdeckungen, die Sie gemacht haben, sind kein Zufall. Sie sind höchstwahrscheinlich die einzige Person auf dieser Erde, die dazu bestimmt ist, die Spiegelpforte zu öffnen.“

Elli zuckte leicht zusammen, als Timmek vorsichtig ihre Hand in seine beiden Hände nahm. Seine Berührung hatte jedoch etwas Erleichterndes, denn sie wirkte überhaupt nicht wie aus einer anderen Welt, sondern war eher menschlich wärmend und beruhigend.

„Jenseits dieser Pforte werde ich für Sie da sein, Elli. Aber ich kann Ihnen nicht helfen, sie zu öffnen – das müssen Sie allein tun. Es gibt keinen anderen Weg.“

Er hielt kurz inne, sein Blick wurde weicher, aber seine Stimme blieb fest. „Wir haben nicht viel Zeit, und weitere Erklärungen sind zu kompliziert. Aber ich kann Ihnen versichern, hinter der Pforte liegt eine Welt, die Sie verstehen werden, wenn Sie bereit sind. Momentan ist nur eins wichtig: Wir müssen unbedingt wissen, ob Sie die Spiegelpforte öffnen können. Und denken Sie daran: Sie können die Pforte nur durchqueren, wenn Sie allein sind. Das ist eine wichtige Voraussetzung. Ich weiß, es ist eine große Verantwortung, aber zögern Sie nicht lange! Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Weg für sie bestimmt ist.“

Elli war es nicht gewohnt, dass Timmek diese Dringlichkeit an den Tag legte und so stark monologisch auf sie einredete. Ihr war ein wenig schwindelig, als er geendet hatte, und ihre Verunsicherung war durch seine nicht wenig verstörenden Worte eher noch größer geworden als zuvor.

Doch dann spürte sie, wie das Amulett an ihrem Hals wärmer wurde, als wolle es ihre Entschlossenheit stärken. Es pulsierte immer stärker, und für einen Augenblick war es, als könnte sie die Wärme direkt in ihrem Herzen spüren. Es war nicht nur ein Schmuckstück – es fühlte sich an wie ein Lebewesen, ein Begleiter, der sie verstand und unterstützte, ohne Worte. Das Licht, das es ausstrahlte, schien sich im Umkreis von Elli auszubreiten, als würde es magische Verbindungen knüpfen und Kraft aus der Umgebung sammeln, die es an Elli weitergab.

Während Elli die Wärme und Kraft des Amuletts spürte, durchströmte sie eine stärkende Energie, die sich wie sanfte, pulsierende Wellen durch ihren Körper bewegte. Es war, als würde das Amulett ihr Mut zuflüstern – ohne Worte, nur durch seine beständige Präsenz –, was Ellis Zweifel und Angst minderte und ihre Entschlossenheit mit jeder Minute, die verstrich, ein wenig mehr wachsen ließ. In ihrem Geist blitzten flüchtige Bilder auf – ein endloser Sternenhimmel, der sanft leuchtete, und eine unermessliche Weite, die sie umgab und doch gleichzeitig in ihrem Inneren zu existieren schien. Es war, als würde das Amulett die Grenzen zwischen ihr und etwas Größerem auflösen, etwas, das schon immer Teil von ihr gewesen war.

Elli blieb einige Zeit lang vollkommen still stehen, spürte in sich hinein und sog die wunderliche Kraft aus dem Amulett in sich auf. Gleichzeitig schien die Luft vor Energie zu flimmern. Elli spürte, dass sich in ihrem Inneren etwas veränderte. Es war, als würde sie einen verborgenen Teil von sich entdecken, der nie gezögert hatte, der immer bereit gewesen war, diesen Weg zu gehen.

Ellis Zweifel wichen zurück, und stattdessen trat eine seltsame Klarheit an die Stelle. Der Friedhof mit seinen flüsternden Schatten und den leuchtenden Farben wurde in diesem Moment für Elli zu einem unverhofften Ort der Stärke. ‚Ich bin bereit‘, dachte sie, und das Amulett an ihrem Hals pulsierte in Zustimmung.

Schließlich blickte sie Timmek an, der noch immer ihre Hand hielt. Timmeks Gestalt, die vorher im unwirklichen Sonnenlicht geschillert hatte, wurde jetzt plötzlich wieder klarer, da die Sonne genau in diesem Moment hinter einer Wolke verschwand, als wollte selbst der Himmel diesem wichtigen Augenblick Raum und Klarheit geben.

„Ich werde es versuchen“, sagte Elli mit neuer Entschlossenheit in der Stimme.

Timmek wirkte nun überraschend unaufgeregt, nickte zufrieden und lächelte. „Das war mir klar. Ich wusste, dass Sie bereit sind. Und denken Sie immer daran, Elli: Sie sind nicht allein!“

Als sie sich am Eingangstor des Friedhofs voneinander verabschiedeten, überkam Elli erneut dieses traumähnliche Gefühl. Ihre Begegnung mit Timmek, mitten in Köln, in diesem lieblichen, ruhigen Naturidyll mitten in der Großstadt, das gleichzeitig ein Ort des Todes und der Vergänglichkeit war und eine so schauerliche Vergangenheit besaß, wirkte vollkommen unwirklich und doch zugleich frappierend real.

Nachdem Timmek fort war, blieb Elli noch einmal eine Weile lang regungslos stehen, als wollte sie die Schwere der Begegnung verarbeiten. Der Melaten-Friedhof, der so still und friedlich vor ihr lag, wirkte auf einmal seltsam vertraut – als wäre er nicht nur ein Ort des Todes, sondern auch ein Ort des Übergangs, an dem sich die Grenzen zwischen den Welten auflösten. Die sanften Schatten der Bäume tanzten im leichten Frühlingswind, und das Licht der untergehenden Sonne warf einen goldenen Schimmer über die alten Grabsteine, als würden sie etwas bewahren, das Elli noch nicht ganz verstand.

Sie atmete tief durch, fühlte die Wärme des Amuletts auf ihrer Haut und spürte erneut, dass ihre Entschlossenheit nun vollends da war. Die Zweifel, die sie eben noch geplagt hatten, waren verblasst, und ein klares Ziel hatte vor ihren Augen Gestalt angenommen.

Jetzt gab es wirklich kein Zurück mehr. Sie wusste, dass es an ihr lag, die Pforte zu öffnen, die Geheimnisse zu enthüllen und den Weg zu gehen, der ihr bestimmt war.

Als Elli sich auf den Weg nach Hause machte, sah sie ein letztes Mal zurück auf den Friedhof, spürte die ruhige Kraft des Ortes in jeder Faser ihres Seins. Der Friedhof war mehr als ein Ort der Toten – er war eine Schwelle, ein Zwischenraum, an dem sich die Grenzen zwischen den Welten auflösten. Und Elli wusste, dass sie eine solche Schwelle allzu bald überschreiten würde.

Mit einem leisen Seufzer wendete sie sich ab und ging mit festen Schritten davon. Was auch immer auf sie zukommen mochte – sie war bereit, ihren Platz in dieser rätselhaften Geschichte einzunehmen.

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