Symbolische, surrealistische Illustration: Eine nachdenkliche Frau mit kurzen, braunen Haaren und natürlichen grünen Augen steht auf einer schmalen Holzbrücke, die über eine in zwei Hälften geteilte Erdkugel führt. Die linke Seite zeigt Umweltzerstörung und Krieg mit dürrer Landschaft, Flammen und Konfliktschatten in intensiven Rottönen. Die rechte Seite symbolisiert eine blühende Welt mit lebendigem Grün, Blumen und friedlichem Himmel in strahlendem Blau. Im Hintergrund erstreckt sich ein kosmischer Sternenhimmel, der Hoffnung und unendliche Möglichkeiten betont. Die Brücke steht für den unsicheren Balanceakt zwischen Chaos und Harmonie.

Kapitel 18 – Szene #52

Szene 52 – Zwischen Idealen und Realität – Notizen zu Wahrheit und Wirklichkeit

Natali sitzt in ihrem Arbeitszimmer, das in ein warmes, goldenes Licht getaucht ist. Die Regale voller Bücher wirken wie stumme Zeugen ihrer Gedanken, während das leise Ticken der antiken Pendeluhr die Stille durchbricht. Draußen sinkt die Dämmerung, und der Vollmond schiebt sich langsam über den Horizont.

Sie greift zu ihrem Notizbuch, in dem die halbfertigen Gedanken der letzten Tage darauf warten, in Worte gefasst zu werden. Mit fließender Hand schreibt sie: „Konstruktion von Wirklichkeit… Ist unsere Wahrnehmung der Welt nur ein Echo unserer Ideologien?“

Die Frage hallt in ihr nach. Ihre Gedanken schweifen zurück zu den Gesprächen über den Film „Don’t Look Up“, die sie in den vergangenen Tagen geführt hat. Sie denkt an die psychoseartigen Reaktionen von Menschen auf Social Media während der Pandemie. Ihr wird erneut der unglaubliche Einfluss von Verschwörungstheorien in dieser Zeit der Angst und Verunsicherung bewusst.

Wie fragil die menschliche Wahrnehmung doch ist! Wie leicht Medien und Ideologien das Bild von der Wirklichkeit formen und verzerren können!

Natalis Finger ruhen einen Moment auf der Notiz, bevor sie die nächste Zeile schreibt: „Ideologie und Totalitarismus: zwei Seiten derselben Medaille. Beide beanspruchen, die absolute Wahrheit zu verkörpern – und zerstören dabei die Vielfalt des Lebens.“

Ein Zitat von Hölderlin fällt ihr ein. Sie schlägt eine Seite ihres Notizbuches auf und liest die Worte leise vor:

„Nichts lässt die Erde mit größerer Sicherheit zur Hölle werden als der Versuch des Menschen, sie zu seinem Himmel zu machen.“

Die Worte drücken genau das aus, was ihr so oft durch den Kopf geht. Das Streben nach einer idealen Welt, das bereits so oft in Zerstörung endete. „Das Leben ist Vielfalt“, schreibt sie weiter. „Es lebt von Gegensätzen und Möglichkeiten, nicht von der Gleichförmigkeit eines einzigen Ideals.“

Das Knarren der Tür lässt sie aufblicken. Ihr Mann tritt ein, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. „Du bist wieder einmal ganz in Gedanken, Natali. Was beschäftigt dich? Arbeitest du an deiner Geschichte?“

Sie legt das Notizbuch beiseite. „Ich überlege, wie ich die Themen Ideologiekritik und Konstruktivismus in meinem Roman darstellen kann. Es geht darum, zu zeigen, wie essenziell es ist, verschiedene Perspektiven zu ermöglichen. Wir haben doch bereits oft über Resonanz gesprochen – ich denke, Resonanz ist auch hier ein wesentlicher Schlüssel.“

„Resonanz?“, fragt er, sich auf die Sessellehne neben ihr setzend.

„Ja,“ fährt sie fort, „Resonanz bedeutet, sich aufeinander einzulassen, sich in andere Realitäten hineinzudenken – manchmal sogar sie zu erspüren. Es ist mehr als Zuhören – es ist eine tiefere Verbindung.“

„Das klingt fast wie ein Gegenmittel zu Dogmatismus“, sagt er. „Ideologien trennen, aber Resonanz könnte verbinden. Sie zeigt, dass es keine absolute Wahrheit gibt, sondern viele Perspektiven, die sich ergänzen können. Ich denke, die Menschheit müsste lernen, stärker auf diese Weise gemeinsam Ideen zu entwickeln.“

Ein leises Lächeln breitet sich auf Natalis Gesicht aus. „Ja, genau. Das passt perfekt zu meinen Gedanken. Es geht mir dabei um nicht-ideologisches Träumen. Wir benötigen Ideale und Träume als Antrieb. Aber wir sollten auch erkennen, dass wir sie niemandem aufzwingen dürfen. Bei unterschiedlichen Ansichten ist oft eine Annäherung der Schlüssel. Träume und Kompromisse – ohne sie gäbe es keine Hoffnung.“

Sie blicken gemeinsam zum offenen Fenster hinaus, wo die ersten Sterne am Abendhimmel erscheinen.

„Da fällt mir ein weiser Spruch ein“, sagt er nachdenklich. „Ich glaube, er stammt aus dem Talmud: ‚Nichts in deinem Leben kann in Erfüllung gehen, das du nicht zuvor geträumt hast.‘“

Natali sieht ihn an, ihre Augen glänzen vor Begeisterung und sie nickt zustimmend. „Genau diesen Satz lasse ich Timmek direkt zu Beginn meines Romans sagen. Dabei geht es wieder um diesen Funken, weißt du? Wir dürfen die Hoffnung nie verlieren, egal wie groß oder klein unsere Träume sind. Sie sind wie Sternschnuppen – flüchtig, aber voller Möglichkeiten.“

Hand in Hand betrachten sie die Sterne, während die Worte von Hölderlin in der Luft schweben: „Nichts lässt die Erde mit größerer Sicherheit zur Hölle werden…“

Die Suche nach Wahrheit ist ein Tanz“, flüstert Natali. „Ein Tanz zwischen dem, was wir in uns tragen, und dem, was außerhalb von uns ist. Eine Wirklichkeit, die niemanden ausschließt, die kein einziges menschliches Wesen entwertet und allen größtmöglichen Raum bietet – eine Welt, in der Gewalt und Unterdrückung verachtet werden und in der die Menschen sich durch Resonanz und Liebe wirklich begegnen können. Das ist mein Traum von einer besseren Welt. Das wäre eine Welt ohne Mitmenschlichkeitsmangel!

Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Der Vollmond erhellt den Himmel, und eine Sternschnuppe zieht ihre Bahn – wie ein Sinnbild für die unendlichen Möglichkeiten, die Träume und Resonanz schenken können.

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