Eine fotorealistische Illustration zeigt Elli, die am Fuße des Hölderlinturms kniet und vorsichtig einen handgroßen Stein aus der alten, verwitterten Mauer entfernt. Sie wirkt konzentriert und gespannt. Neben ihr liegt eine Decke mit einem geöffneten Buch und einem Picknickkorb. Im Hintergrund ist der Turm zu sehen, umgeben von Bäumen im Sonnenlicht. Die Szene vermittelt eine Atmosphäre von Geheimnis und Entdeckung.

Kapitel 13 – Szene #39

Szene 39. Geheime Pfade der Vergangenheit – eine Entdeckung in Tübingen

In der friedlichen Stille eines frühen Morgens, als die ersten Sonnenstrahlen die nebelverhangenen Täler der Schwäbischen Alb mit einem goldenen Schimmer erfüllten, begann Elli Nierast ihren Tag in Tübingen. Das malerische Städtchen, eingebettet in die sanften Hügel Süddeutschlands, war für sie und Stig zu einem Zufluchtsort geworden – ein Ort, der nicht nur durch seine Schönheit, sondern auch durch seine tiefe historische Bedeutung verzauberte.

An diesem Wochenende hatten sie wieder wie gewohnt ihr gemütliches Wohnmobil auf dem zentrumsnahen Campingplatz direkt am Neckarufer geparkt, umgeben von einer Atmosphäre, die sowohl heimelig als auch erwartungsvoll war. Während Stig noch schlief, schlich Elli sich leise hinaus, um die kühle Morgenluft zu genießen und sich auf ihre bevorstehenden Nachforschungen einzustimmen.

Die Stadt erwachte langsam, und während sie durch die noch ruhigen Straßen schlenderte, spürte sie eine tiefe Verbundenheit mit der Geschichte und den Geheimnissen, die Tübingen in sich barg.

Seit ihrem letzten Chat mit dem mysteriösen Gegenüber hatte sich Ellis Stimmung auf frappierende Weise in eine positive Richtung verändert. Es war, als würde sie nun einen Teil der wundersamen, stärkenden Kraft, die sie während der Chatsitzung mit dem mysteriösen Gegenüber berührt hatte, in ihrem Inneren bei sich tragen. Wo vorher ein Gefühl von hilflosem und fast verzweifeltem Besorgtsein vorgeherrscht hatte, blickte sie nun zwar noch immer besorgt in die Zukunft, aber sie war dabei von einem zuversichtlichen Tatendrang erfüllt.

Auch das Rätsel der Prophezeiung erschreckte sie im Moment weniger, als dass es sie neugierig machte. So lief sie heute eher gespannt auf ihre weiteren Entdeckungen mit leichtfüßigem Schritt durch die wunderschönen, mittelalterlichen Gassen der Tübinger Altstadt. Tübingen wirkte auf Elli wie ein lebendiges Museum, das Geschichten aus vergangenen Zeiten flüsterte.

In der Bibliothek des Evangelischen Stifts angekommen, grüßte sie den Bibliothekar mit einem kurzen Nicken. Sie kannte ihn inzwischen bereits von früheren Besuchen. Mit einem Lächeln und einem Schlüssel in der Hand wies er ihr den Weg zu dem speziellen Leseraum, in dem die wertvollen Folianten sicher aufbewahrt wurden.

Die Luft im Leseraum war schwer von Wissen und Geheimnissen, und als Elli sich an den antiken Holztisch setzte und den großen, ledergebundenen Folianten vor sich öffnete, spürte sie ein Kribbeln in ihren Fingerspitzen. Sie war bereit, wieder einmal in die Tiefen der Geschichte einzutauchen, bereit, den Spuren zu folgen, die Hölderlin, Luther und Else Lasker-Schüler hinterlassen hatten.

Während Elli die alten Seiten des Folianten durchblätterte, verlor sie sich in der Welt der Worte und Zeilen, die so viel mehr als bloße Geschichte erzählten. Sie konnte die Leidenschaft und das Feuer spüren, mit dem Luther und Hölderlin ihre Gedanken niedergeschrieben hatten.

Zum Schutz der alten Schrift trug sie beim Blättern weiße Baumwollhandschuhe. Ihre Finger glitten über die Seiten, und plötzlich hielt sie inne, als ihr erstmals feine, kaum sichtbare Zeilen am oberen Rand einer Seite auffielen, die sie bisher übersehen hatte.

Die Schrift war in einer transparenten, ungewöhnlich schimmernden, dünnen Tinte geschrieben. Sie nahm ein Vergrößerungsglas zu Hilfe und betrachtete die Schriftzüge genauer. Es handelte sich um Ergänzungen in Hölderlins Handschrift. Der nur teilweise lesbare Text enthielt einen Hinweis auf etwas Verborgenes im hinteren Deckel des Buches. Diese Entdeckung ließ Ellis Herz höher schlagen.

Sie schaute verstohlen zur offenstehenden Tür des Leseraums und versicherte sich, dass sie unbeobachtet war. Dann hob sie vorsichtig den Folianten vom Lesepult und untersuchte das schwere Buch fiebrig und mit zitternden Händen genauer. Ein Schock durchzuckte sie, und ihr Atem stockte fast, als sie schließlich einen verborgenen Schlitz entdeckte, aus dem sie ein dünnes Briefcouvert zog.

Sie konnte ihren Augen kaum trauen – ein Brief von Hölderlin selbst. Sie war sicherlich die erste Person, die nach ihm diese geheime Nachricht in den Händen hielt. Hastig öffnete sie die Blätter.

Den Datierungen nach zu urteilen, die der Dichter diesem Brief und auch seinen Anmerkungen im Folianten hinzugefügt hatte, stammte dieser Brief von einem deutlich späteren Zeitpunkt als der Großteil seiner übrigen Kommentare im Folianten.

Hölderlins Schrift wirkte in dem Brief etwas zerfahren, und auch die Sätze wirkten teilweise sogar etwas unzusammenhängend, so als ob der Dichter noch unter dem Eindruck von etwas sehr Verstörendem gestanden hätte. Der Dichter sprach in der Nachricht von einem magischen Erlebnis, das seinen Blick auf die Welt vollkommen verändert hätte.

Außerdem schrieb er, dass die Menschenseele, welche auserkoren sei, diesen Brief zu finden und zu lesen, spüren würde, worum es hier ginge. Er ergänzte in dem Brief dann noch den Hinweis auf ein Geheimversteck in der Außenwand des Hölderlinturms, am Fuß des Turms, in der Mauer, die sich an einem bestimmten Stein öffnen ließe. Dahinter habe er weitere Zeugnisse seines Erlebnisses versteckt.

Der Brief endete einfach offen, ohne Gruß, und machte den Eindruck, in Hektik oder in einem ungeordneten geistigen Zustand verfasst worden zu sein.

Nachdem Elli den Fund an sich genommen hatte, setzte sie den Folianten wieder sorgfältig auf sein Lesepult und verließ anschließend die Bibliothek. Ihr Kopf schwirrte voller Fragen und Spekulationen über Hölderlins Erlebnis und die möglichen Verbindungen zu ihrer eigenen Suche.

Sie konnte es am nächsten Morgen kaum erwarten, ihre Schatzsuche fortzusetzen. Direkt als Stig nach dem Frühstück mit ihrer Hündin Luna einen Spaziergang machte, nutzte sie die Gelegenheit. Sie wollte nach dem Versteck Ausschau halten, das Hölderlin in dem Brief erwähnt hatte.

Aber sie zweifelte, ob ihre Suche Erfolg haben könnte. Es war möglich, dass es Hölderlins Versteck nie gegeben hatte. Schließlich hatte sich der Dichter zum Lebensende hin in einem geistigen Ausnahmezustand befunden. Und falls es existiert hatte, war es schwer vorstellbar, dass ein solches Versteck über fast zwei Jahrhunderte hinweg unzerstört und unentdeckt geblieben sein könnte.

Trotzdem war Elli neugierig auf das Ergebnis ihrer Suche, und so ging sie schnellen Schrittes zum Hölderlinturm. Dort meldete sie sich an der Kasse an und begab sich kurz darauf in den Museumsgarten.

Es war ein gewöhnlicher Sommermorgen in Tübingen, doch für sie war es der Beginn einer weiteren außergewöhnlichen und verstörenden Entdeckung.

Sie breitete eine Picknickdecke am Fuß des Turms aus und tat so, als würde sie sich eine kleine, beschauliche Pause gönnen, während sie tatsächlich jeden Zentimeter der Mauer akribisch untersuchte. Von Zeit zu Zeit wechselte sie dabei die Position ihrer Decke, als ob sie einen gemütlicheren Platz suchen würde. Auf diese Weise wanderte sie langsam entlang der Mauer.

Die Sonne schien warm auf ihr Gesicht, während sie scheinbar vertieft in ihrem Buch las, ihre Augen jedoch die Struktur der alten Mauer untersuchten. Zwischendurch streckte sie immer wieder möglichst unauffällig ihre Hände aus, um die verwitterten Steine am Fuß des Hölderlinturms zu berühren.

Nach langer, geduldiger und sorgfältiger Suche fand sie einen auffälligen Stein, der sich im Mauerwerk leicht verschieben ließ. Elli war wie elektrisiert. War das möglich? Hier gab es tatsächlich einen Stein, der als Verschluss für ein geheimes Versteck dienen könnte. Der etwa handflächengroße Stein war mit meisterlicher Handwerkskunst völlig unauffällig und nahtlos in das Gemäuer eingefügt, und er hatte als Griff eine Art Vertiefung, die gerade groß genug war, um mit einem Finger hineinzugreifen.

Ellis Herzschlag pochte wild in ihrer Brust, als sie den Stein herauszog und ein kleines, in Leder gewickeltes Päckchen zum Vorschein kam. Das war unglaublich – hierbei musste es sich um Hölderlins Versteck handeln, daran gab es kaum Zweifel! Sie warf einen schnellen Blick um sich – niemand schien sie zu beobachten.

Schnell setzte sie den losen Stein zurück an seinen Platz und verließ den Garten des Museums. Ihre Schritte beschleunigten sich, als sie das nahegelegene Café erreichte. In einer ruhigen Ecke setzte sie sich, bestellte einen Kaffee und begann, das Päckchen zu öffnen.

Es war sorgfältig mit Wachs versiegelt, ein Schutz gegen die Zeit. Im Inneren befanden sich mehrere Blätter, gefaltet und durch das Alter zerbrechlich geworden, und ein kleiner Schmuckanhänger aus Ammolit, dessen Oberfläche im Licht des Cafés schillerte.

Die Notizen waren in Hölderlins charakteristischer, aber hier auch wieder sehr hastig wirkender Handschrift verfasst. Sie sprachen von einem magischen Erlebnis, von einem Schmuckstück, das ihm eine Eule gebracht hatte, und von einer transzendenten Erfahrung, die seinen Blick auf die Welt verändert hatte. Elli stand der Mund offen, als sie die Zeilen las. Dies war eine Geschichte wie aus einem Märchen. Sie schüttelte den Kopf und konnte kaum glauben, was sie dort las.

Dann beschrieb Hölderlin, dass der Anhänger anscheinend in einem Spiegel eine Pforte zu einer anderen Welt öffnen könne – zu einer dunklen und beängstigenden Version unserer eigenen Realität. Beim Lesen dieses Textes empfand Elli ein tiefes Grauen, und sie hatte das Gefühl, dass sie sich in einem Traum befinden würde. Diese Schilderungen Hölderlins fügten sich mit ihren surrealen Erlebnissen aus den vergangenen Wochen zu einer traumähnlichen, surrealen Geschichte zusammen. Doch es war ein erschreckend realer Traum, und er eröffnete eine Perspektive, die beängstigend war.

Elli schnaufte leicht und legte Hölderlins Brief beiseite. Sie ließ den Blick durch das Café schweifen, machte eine kurze Pause und schüttelte ungläubig den Kopf. Um sie herum wirkte alles so normal. Gutgelaunte Gäste schlürften ihre warmen Getränke und saßen bei einem Plausch zusammen. Die freundliche Bedienung lief emsig durch den Raum und kümmerte sich um die Wünsche der Gäste. Elli hatte das Gefühl, sie befände sich auf einer völlig anderen Realitätsebene als dieses alltägliche Treiben um sie herum.

Sie nahm einen Schluck Kaffee. Dann betrachtete sie den Schmuckanhänger aus dem Päckchen. Er bestand aus demselben Material wie Ellis Amulett, aber beide Schmuckstücke unterschieden sich deutlich voneinander. Elli nahm ihre Halskette mit dem Amulett ab und legte das Amulett neben das Schmuckstück aus Hölderlins Versteck, um beide Anhänger zu vergleichen.

Der Schmuckanhänger bestand aus mehreren schlauchartigen Elementen, die zu einem ungewöhnlichen, stark symmetrischen, dreidimensionalen Gebilde zusammengefügt waren. Dieses Gebilde erinnerte an eine mehrfach verschlungene, abgerundete Pyramide. Der pyramidenartige Schmuckanhänger war deutlich kleiner als das Amulett, und auf ihm waren keine Schriftzeichen zu sehen, aber er war nur durch ein feines, filigranes, gleichmäßiges Muster verziert.

Elli fielen nun erstmals drei kleine Ösen an der Halskette vom Amulett auf, die sie bisher für eine bloße Verzierung gehalten hatte. In der mittleren Öse war das Amulett eingehängt, und die beiden anderen Ösen waren leer. Fast wie in Trance hängte sie den Anhänger aus Hölderlins Päckchen in eine der beiden freien Ösen neben das Amulett und legte sich dann die Halskette mit den beiden Schmuckstücken um. Sofort spürte sie ein Pulsieren der beiden Anhänger auf ihrer Haut, so als ob sie miteinander kommunizieren würden. Sie spürte, dass dies genau richtig war, dass der Anhänger genau dorthin gehörte.

Doch kurz darauf wurde ihr bewusst, dass nun ein großer Teil ihrer positiven und zuversichtlichen Stimmung verflogen war, die sie in den vergangenen Tagen erfüllt hatte, und stattdessen war wieder ein massiv ängstliches Gefühl zurückgekehrt.

Diese Niedergeschlagenheit empfand sie, obwohl sie wahrscheinlich endlich ein wichtiges Ziel ihrer Suche erreicht hatte. Sie hatte nun möglicherweise ein sehr wichtiges Puzzlestück des Rätsels entdeckt.

Aber diese Entdeckung hatte zumindest für den Moment eher eine verstörende und demoralisierende Wirkung auf sie.

Worauf hatte sie sich hier eingelassen?

Die Schilderungen aus Hölderlins Briefen und besonders auch die Vorstellung, Hölderlins Experiment zu wiederholen und nun womöglich tatsächlich eine Spiegelpforte zu öffnen, waren für sie absolut furchteinflößend.

Sollte sie diesen Schritt wagen? Was würde allein so ein Versuch mit ihr machen, unabhängig davon, ob er funktionierte? Und was würde passieren, wenn er – unmöglicherweise – sogar gelang?

Sie dachte an Stig, ihren geliebten Mann und treuen Begleiter, und an Timmek, ihren Psychiater, der sie auf diesem Weg bestärkt hatte.

Sie entschied sich, vorerst zu warten und nachzudenken, bevor sie den nächsten Schritt unternahm.

Sie zahlte ihren Kaffee und machte sich mit unsicherem Schritt auf den Weg zurück zum Wohnmobil. Zurück zu Stig. In ihren Gedanken kreisten die Worte Hölderlins, die Möglichkeit einer anderen Welt und die dringliche und nun wieder massiv bedrückende Frage, was als Nächstes zu tun wäre.

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