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Die Winternacht hatte das kleine Allgäuer Bergdorf in eisige Stille gehüllt. Der Hof von Ellis Familie lag einsam am Rand des Waldes. Der Wind heulte um die Ecken des Hauses und ließ die Dunkelheit tiefer und bedrohlicher erscheinen. Elli, ein Mädchen mit großen, ängstlichen Augen und einer lebhaften Fantasie, kauerte unter ihrer Decke und lauschte den Geräuschen der Nacht.
Ihre Decke hatte sie bis zum Kinn gezogen, als könnte sie sich so vor der Kälte und den Schatten draußen schützen. Doch sie wusste, dass sie bald hinaus in die Nacht gehen musste, um die Tiere zu füttern. Allein der Gedanke daran ließ sie zittern. Der Stall lag am Waldrand – dort, wo sie sicher war, dass die Schatten auf sie warteten.
„Elli, geh und fütter die Tiere!“ Die lallende Stimme ihrer Mutter drang aus dem Schlafzimmer, begleitet vom dumpfen Klirren einer Flasche, die über den Boden rollte.
Elli schluckte schwer. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Langsam schälte sie sich aus dem Bett, zog Stiefel und Mantel über und nahm mit zitternden Händen ihre kleine Taschenlampe. Als sie die Hintertür öffnete, traf sie ein eisiger Windstoß, der ihr den Atem raubte und sie fast zurückweichen ließ. Die Dunkelheit draußen schien wie eine lebendige Masse, die nur darauf wartete, sie zu verschlingen.
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, jeder Schritt klang in der gespenstischen Stille laut und fremd. Die kahlen Äste der Bäume warfen lange, verzerrte Schatten, die im Licht ihrer Taschenlampe tanzten. Mit jedem Schritt wuchs das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Dunkelheit schien zu leben, und Elli konnte den Blick nicht von den Schatten am Waldrand abwenden.
Fast hatte sie den Stall erreicht, als sie plötzlich erstarrte. Eine Gestalt schälte sich aus der Schwärze der Bäume. Für einen Augenblick glaubte sie, kalte, grüne Augen im Mondlicht schimmern zu sehen.
Ellis Finger klammerten sich um die Taschenlampe, doch ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. „Das bilde ich mir nur ein! Ich bilde mir diese Sachen doch ständig nur ein!“ murmelte sie in den Wind. Panik stieg in ihr auf, und schließlich rannte sie so schnell sie konnte in den Stall, schlug die Tür hinter sich zu und knipste das Licht an.
Drinnen umfing sie der vertraute Geruch von Heu, gemischt mit der warmen, erdigen Präsenz der Tiere. Das leise Scharren von Arthos’ Huf auf dem Boden und das dumpfe Brummen eines Kaninchens waren wie eine flüchtige Beruhigung. Doch das schwache Licht warf düstere Schatten auf die Holzwände, und das Heulen des Windes ließ den Stall erbeben.
Einige Minuten lang war Elli nicht fähig, sich zu bewegen. Von Angst erstarrt horchte sie nach draußen und fürchtete, die Tür würde sich hinter ihr öffnen.
„Du träumst mal wieder, während du wach bist,“ sagte sie leise in die Stille. Die vertrauten Geräusche der Tiere im Stall halfen ihr, ein wenig Ruhe zu finden.
Wenn sie jetzt schnell ihre Pflicht erfüllte, konnte sie zurück in die Sicherheit. Elli begann hektisch, die Tiere zu füttern, doch ihre Hände zitterten so stark, dass sie das Futter beinahe fallen ließ. Immer wieder horchte sie ängstlich nach draußen und warf vorsichtige Blicke zur Tür, ob diese weiterhin fest verschlossen blieb. Als sie gerade die Tränke von Arthos, dem kleinen Pony, füllte, ließ sie ein Scharren an den Fensterläden zusammenzucken.
„Nur der Wind,“ flüsterte sie sich selbst zu, doch ihre Stimme klang brüchig. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, doch ihr Herz raste, und die Schatten in den Ecken des Raumes schienen mit jeder Sekunde bedrohlicher zu werden.
Als sie mit dem Füttern endlich fertig war und den Stall verlassen wollte, zögerte sie. Die Dunkelheit draußen wirkte undurchdringlich, feindselig. Mit zitternden Fingern schob sie die Tür einen Spalt auf und spähte hinaus, doch ihre Sicht wurde vom Licht ihrer Taschenlampe begrenzt. Die Kälte biss in ihre Wangen, und das Gefühl, verfolgt zu werden, ließ ihre Kehle trocken werden.
Ein leises Kichern durchbrach die Stille, ein Geräusch, das sie bis ins Mark erschütterte. Es kam aus Richtung des Waldes.
Elli schrie auf, ihre Angst trieb sie voran. Sie rannte, so schnell sie konnte, durch den Schnee. Die Taschenlampe warf tanzende Lichtkegel, die die Schatten nur noch unheimlicher wirken ließen. Das Heulen des Windes verschmolz mit ihrem Atem zu einem einzigen, panischen Geräusch. Sie stürzte durch die Haustür, schlug sie hinter sich zu und lehnte sich keuchend dagegen.
Das warme Licht der Küche schien die Dunkelheit vorübergehend zu vertreiben, doch Ellis Herz pochte noch immer heftig. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die Schatten noch immer draußen lauerten.
„Mama, da ist etwas draußen!“ rief Elli mit zitternder Stimme, während sie hastig ihre Stiefel auszog.
Keine Antwort.
Elli ging ins Schlafzimmer und fand ihre Mutter schlafend – oder bewusstlos – auf dem Bett liegend, die halb geleerte Flasche Schnaps neben ihr.
Elli kroch vorsichtig zu ihrer Mutter unter die Decke und schmiegte sich an sie. Die Wärme des Körpers ihrer Mutter war trotz des scharfen Alkoholgeruchs in ihrem Atem ein Trost, der wie ein Schutzschild gegen die Kälte und die Bedrohungen der Nacht wirkte.
„Mama, ich habe Angst,“ flüsterte Elli leise.
Ihre Mutter murmelte etwas Unverständliches, doch ihr Arm legte sich schwer um Elli. Trotz der Unbeholfenheit in dieser Geste fühlte sich Elli ein wenig sicherer.
Die Schatten in ihrem Kopf blieben jedoch. Sie waren lebendig in ihren Gedanken, ein Echo der unheimlichen Nacht, die sie da draußen erlebt hatte. Mit weit offenen Augen starrte Elli in die Dunkelheit des Schlafzimmers, während der Wind um das Haus heulte und die Fensterläden klapperten.
Doch dann erinnerte Elli sich an die Worte ihrer Mutter, die sie in ihrem Inneren wie einen Schatz bewahrte und die nun wie ein leiser Funke Hoffnung in ihr aufglommen:
„Du bist etwas Besonderes, Elli. Du hast unglaubliche Stärke in dir!“
Diese Worte waren ein Anker, an dem sie sich festhielt, und mit jedem Atemzug schien die Dunkelheit ein wenig an ihrer Macht zu verlieren. In ihrem Inneren spürte sie eine Kraft – klein, aber unerschütterlich, wie ein junges Pflänzchen, das sich durch gefrorene Erde kämpfte. Sie wusste, dass diese Stärke in ihr wuchs, leise, aber unaufhaltsam – und dass sie eines Tages bereit sein würde, den Schatten die Stirn zu bieten.
Als sie langsam in den Schlaf glitt, kehrten ihre Gedanken zu der Gestalt am Waldrand zurück. Doch dieses Mal erschien sie weniger bedrohlich. In ihrer Vorstellung war es vielleicht nur eine große Wildkatze oder ein Reh gewesen, dessen Augen das Mondlicht reflektiert hatten. Der Gedanke beruhigte sie ein wenig.
Und so schlief sie schließlich ein, nicht ohne Zweifel, aber mit der vagen Ahnung, dass die Schatten nicht nur Gefahr bedeuteten, sondern auch eine Prüfung. Eine Herausforderung, die sie womöglich eines Tages überwinden könnte – wenn die Zeit reif war.
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