Szene 63 – Delphis Echo – Kleobis und die Pythia
Das Heiligtum von Delphi, 580 v. Chr.
Das Heiligtum von Delphi erhebt sich majestätisch in den Falten des Parnass-Gebirges. Umrahmt von uralten Olivenbäumen, durchdringt der betörende Duft von Weihrauch und Myrrhe die klare Luft. Das leise Murmeln der heiligen Kastalia-Quelle verschmilzt mit dem sanften Flüstern des Windes, als würde die Natur selbst an den heiligen Ritualen teilhaben. Pilger, Gelehrte und Gläubige aus allen Teilen der griechischen Welt beleben den Ort, doch im Inneren des Tempels herrscht eine gespannte, ehrfurchtsvolle Stille.
Die Hohepriesterin, bekannt als Pythia, hat sich zuvor in einem rituellen Bad in der Kastalia-Quelle gereinigt. Nun betritt sie den inneren Tempel, die Schritte bedacht, die Haltung aufrecht. Ihr Platz ist der Dreifuß, ein schlichter, aber ehrfurchtgebietender Sitz, der über einer Erdspalte thront. Aus dieser steigen dichte, geheimnisvolle Dämpfe auf, die den Raum mit einem Hauch des Unbekannten erfüllen. Sie atmet tief ein und öffnet ihr Bewusstsein den göttlichen Visionen. Ihre Augen werden glasig, ihre Bewegungen erstarren, bis schließlich ihre Stimme zur Resonanz eines göttlichen Willens wird.
Vor ihr steht Kleobis, ein ehrwürdiger Priester und Gelehrter aus der Region. Sein Haar ist schneeweiß, sein Rücken von den Jahren gebeugt, doch in seinen Augen blitzt die Klarheit eines wachen Verstands. Mit ruhiger, gewichtiger Stimme richtet er seine Frage an die Pythia:
„Was offenbart die ferne Zukunft für uns, o heilige Pythia?“
Die Pythia beginnt zu sprechen. Ihre Stimme hat etwas Überirdisches an sich, als würde sie von den Göttern selbst gelenkt:
„Hört, ihr Sterblichen! Eine Zeit wird anbrechen, in der die Welt aus dem Gleichgewicht gerät. Eine finstere Macht, Anderssein, wird erwachen, und seine Kraft wird wachsen. Anderssein wird die Welten ins Chaos stürzen und Finsternis bringen. Doch es gibt Hoffnung. Ein Heldenwesen, genannt das rastlose Wesen, wird erscheinen. Es wird die Kraft des Zungenredens besitzen, gute Geister rufen und den Funken in sich tragen, der Anderssein besiegen kann.
Mit dem Artefakt, dem Lied der Liebe, wird das rastlose Wesen die Brücke zwischen den Welten überqueren. Sieben Spiegel werden es führen, sieben Seelenhälften wird es vereinen, und sieben Zeichen der Freundschaft wird es sammeln. Meistert das Heldenwesen diesen Pfad, so wird es die Fähigkeit erlangen, die Welt zu heilen und das Gleichgewicht der Welten wiederherzustellen.
Bewahrt diese Worte, denn die Zeit ihrer Erfüllung liegt jenseits eures Verstehens. Sie sind für jene bestimmt, die in fernen Zeiten suchen und die Wahrheit in den Tiefen der Dunkelheit und des Lichts finden werden. Mögen diese Worte die Generationen überdauern, bis diese dunklen Zeiten anbrechen.“
Die Worte hallen durch die Weite des Tempels und hinterlassen eine fast greifbare Stille. Kleobis sinkt auf die Knie, seine Stirn fast am kühlen Steinboden. Die Tragweite der Prophezeiung lastet schwer auf seinen Schultern.
„Euch sei Dank, heilige Pythia“, flüstert er. Seine Stimme ist kaum hörbar, doch Ehrfurcht und die Schwere der Verantwortung klingen deutlich durch. „Diese Worte werden nicht verloren gehen.“
Die Pythia kehrt langsam in ihren normalen Zustand zurück, ihr Körper erschöpft von der göttlichen Verbindung. Mit wankenden Schritten verlässt sie den Tempel, während Kleobis in eine stille Kammer tritt, um die Prophezeiung niederzuschreiben.
Der Raum ist spärlich eingerichtet – ein schlichter Tisch, ein Krug mit schwarzer Tinte und mehrere leere Papyrusrollen. Mit zitternden Händen greift er zur Feder und setzt die ersten Worte. Es scheint, als würde eine unsichtbare Hand ihn leiten.
„Eine Zeit wird anbrechen…“, schreibt er, und die Worte fließen wie ein unaufhaltsamer Strom aus ihm heraus. Jeder sorgfältige Strich trägt die Last und die Heiligkeit der göttlichen Botschaft. Mit jedem Satz spürt er die Verantwortung, die ihm auferlegt wurde, und zugleich eine Verbindung zu etwas Größerem, etwas Zeitlosem und Ewigen.
Nachdem er die letzten Worte niedergeschrieben hat, fügt er am unteren Rand seine eigenen Gedanken hinzu:
„In der Stille dieses heiligen Ortes, unter dem wachsamen Blick der Götter, habe ich die Worte der Pythia festgehalten. Möge diese Prophezeiung ein Leuchtturm in dunklen Zeiten sein, ein Wegweiser für jene, die bereit sind, ihr Herz und ihre Seele der Suche nach Gleichgewicht und Heilung zu widmen. Ich, Kleobis, ein Diener der Götter und Bewahrer der Weisheit, lege dieses Zeugnis ab in der Hoffnung, dass es die Generationen überdauert.“
Mit einem leisen Seufzer legt Kleobis die Feder zur Seite. Mit bedächtigen Bewegungen versiegelt er die Papyrusrolle, wobei jeder Handgriff die Ehrfurcht widerspiegelt, die er für diese Aufgabe empfindet. Sorgsam platziert er die Rolle in eine schlichte, aber kunstvoll verzierte Holztruhe. Die Symbole der Götter und das schimmernde Farbenspiel des Ammolits, das den Deckel ziert, verleihen der Truhe eine fast mystische Aura. Als er sie schließt, durchströmt ihn ein Gefühl der Vollendung – eine leise, aber unübersehbare Gewissheit, dass er Teil eines göttlichen Plans geworden ist, dessen Auswirkungen weit über seine Zeit hinausreichen werden.
Langsam erhebt er sich. Die flackernde Kerze auf dem Tisch wirft tanzende Schatten an die Wände, als ob der Raum selbst Anteil an der Bedeutung dieses Augenblicks nehmen würde. Mit einem letzten Blick auf die Truhe, die das Vermächtnis der Prophezeiung birgt, murmelt er:
„Mögen diese Worte die Suchenden erreichen, wenn die Zeit reif ist.“
Bedächtig verlässt Kleobis die Kammer und tritt hinaus in die kühle, klare Nacht von Delphi. Über ihm funkeln die Sterne, still und zeitlos, als wollten sie die Prophezeiung selbst in ihrem ewigen Licht bewahren. Sein Herz ist schwer von der Verantwortung, die auf ihm lastet, doch zugleich erfüllt ihn eine tiefe innere Ruhe. Die Worte der Pythia sind nun sicher bewahrt für eine ferne Zukunft – ein Vermächtnis, das die Jahrhunderte überdauern wird.
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