Szene 48 – Die Bewahrer alter Worte – Bruder Lukas und das Erbe der Prophezeiung
Schreibstube im Kloster St. Gallen, während des Dreißigjährigen Krieges
Draußen tobte der Dreißigjährige Krieg, die Welt versank in Blut und Feuer. Doch hinter den dicken Mauern des Klosters St. Gallen herrschte eine erhabene Stille. Die Schreibstube des Klosters war ein Zufluchtsort für jene, die sich dem Wissen verschrieben hatten. Hier, inmitten des Chaos und der Zerstörung, blieben die alten Texte lebendig.
Bruder Lukas saß an einem massiven Eichenholztisch, umgeben von Pergamentrollen, Tintenfässern und Schreibfedern. Vor ihm lag ein alter, zerfledderter Foliant, dessen Seiten die Zeit gezeichnet hatte. Behutsam blätterte er eine Seite nach der anderen um. Seine Finger glitten über das spröde Pergament, während er begann, den alten Text der Prophezeiung in sauberer Handschrift auf ein neues Pergament zu übertragen. Die Worte, die er niederschrieb, schienen aus einer anderen Welt zu stammen – aus einer Zeit, in der Weisheit und Wissen über das menschliche Leben hinausreichten.
Die Tür zur Schreibstube öffnete sich, und Bruder Johannes trat leise ein, seine neugierigen Augen glitten über die Regale mit den alten Schriften. „Bruder Lukas, was schreibst du dort?“ Seine Stimme war gedämpft, als wolle er die heilige Atmosphäre des Raumes nicht stören.
Lukas hob den Kopf, sein Blick ruhig und tief. „Die Prophezeiung“, sagte er leise, seine Feder pausierte einen Moment über dem Pergament. „Es wird gesagt, sie enthält Worte von großer Bedeutung für unsere Zeit – und vielleicht auch für die, die nach uns kommen.“
Johannes trat näher und beugte sich über den Tisch. Sein Blick fiel auf die Zeilen, die Lukas gerade niederschrieb. „Glossai…“ murmelte er. „Die Sprachen. Es heißt, sie seien der Schlüssel zur Kommunikation mit dem Göttlichen.“
Lukas nickte langsam. „Man sagt, dass in diesen dunklen Zeiten, inmitten von Krieg und Zerstörung, Menschen berufen sind, diese besondere Art von Sprache wiederzuentdecken – und damit die Welt zu heilen.“
Johannes runzelte die Stirn und las die Worte, die Lukas gerade niedergeschrieben hatte. „Die Zeichen sind überall. Krankheiten, Kriege, Dürre…“ Seine Stimme wurde leise. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Prophezeiung Wirklichkeit wird.“
Lukas seufzte und legte die Feder behutsam zur Seite. „Es liegt nicht an uns, die Zeichen zu deuten. Unsere Aufgabe ist es, das Wissen zu bewahren. Eines Tages wird jemand kommen, der fähig ist, die wahre Bedeutung dieser Worte zu erkennen.“
Johannes nickte nachdenklich und ließ sich auf den Stuhl neben Lukas sinken. Sein Blick blieb auf dem Pergament haften, als er die Tiefe der Worte in sich aufnahm. „Es ist beeindruckend zu denken, dass diese Worte der Schlüssel zur Rettung der Welt sein könnten.“
Lukas schaute auf die alte, fast brüchige Seite des Folianten und legte die Hand sanft auf das Papier, als würde er die Bedeutung der Prophezeiung in sich aufsaugen. „Wir bewahren mehr als nur Worte“, sagte er leise. „Wir bewahren Hoffnung.“
Die beiden Mönche saßen eine Weile schweigend da, versunken in Gedanken über die Prophezeiung und die Welt um sie herum, die im Chaos versank. Als der Abend herankam und die Schatten länger wurden, versiegelte Lukas das transkribierte Pergament sorgfältig und legte es in eine kleine Kiste, die in einem Geheimfach der Schreibstube verborgen war.
Doch bevor er die Kiste schloss, zog Lukas ein weiteres Stück Pergament hervor, kleiner und weniger bedeutend. Mit nachdenklicher Miene begann er, persönliche Gedanken niederzuschreiben:
„Im Schatten der Vergangenheit und im Angesicht einer unsicheren Zukunft sitze ich hier, um die Worte der alten Prophezeiung niederzuschreiben. Ich bin nicht der Erste, der diese heilige Aufgabe übernimmt, und ich werde gewiss nicht der Letzte sein. So wie einst Kleobis, der in den Ruinen Athens sprach, oder Martin Luther, der in seiner Zelle Trost fand, und Bruder Iskender, der in der Stille seines Studierzimmers Hoffnung fand – so reihe auch ich mich in die Kette derer ein, die das Vermächtnis bewahren. Möge derjenige, der diese Zeilen in ferner Zukunft liest, die Last und die Liebe spüren, mit der sie niedergeschrieben wurden. Möge er oder sie die Verantwortung erkennen, dieses heilige Wissen für kommende Generationen zu bewahren.“
Lukas legte die Feder nieder und betrachtete seine Worte. Für einen Moment schien es, als hätte er einen Funken von Ewigkeit berührt – ein Funken, der in den alten Texten lebte und in jedem, der die Worte bewahrte. Der Buchdruck mochte die Welt verändert haben, doch die Handarbeit, das langsame, bewusste Kopieren, gab diesen Worten eine persönliche, lebendige Kraft.
Bruder Johannes, der das Pergament aufmerksam betrachtete, sprach schließlich aus, was Lukas insgeheim schon lange wusste. „Die alten Wege haben immer noch ihre Berechtigung“, flüsterte er. „Es ist unsere Aufgabe, in Zeiten wie diesen ein Licht zu bewahren.“
Lukas legte seine Notiz zur Prophezeiung in die Kiste, verschloss die Kiste sorgfältig und nickte zufrieden. Er war zutiefst von einer fast andächtigen Ruhe und Entschlossenheit erfüllt. „Und vielleicht“, sagte er leise, „werden diese Worte eines Tages die Welt verändern.“
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