Szene 46 – Dimensionen der Liebe – Eine Entschlüsselung des Hohelieds
In der Stille ihres Arbeitszimmers, umgeben von einem Ozean aus Büchern und verstreuten Notizen, saß Elli, den Blick auf das schimmernde Amulett und den danebenliegenden Anhänger aus Ammolit gerichtet. Das Licht des späten Nachmittags fiel sanft auf die unzähligen Dokumente, die ihren Schreibtisch bedeckten, während sie die fein gefalteten Blätter Hölderlins in den Händen hielt.
Das wachsversiegelte Päckchen, das sie im Versteck am Hölderlinturm entdeckt hatte, enthielt neben diesen beschriebenen Blättern auch den kunstvoll gearbeiteten Schmuckanhänger, dessen Oberfläche in einem Spektrum leuchtender Farben schillerte – als würde das Licht darin tanzen.
Elli blätterte erneut durch Hölderlins hastig geschriebene Notizen. Seine Worte erzählten von einer fast mystischen Begegnung mit einer Eule und der Übergabe dieses Anhängers, der, so schien es, nicht nur ein Schmuckstück war, sondern eine transzendente Bedeutung trug. Mit der Präzision eines Gelehrten hatte sich Hölderlin der Untersuchung des Anhängers gewidmet und dabei faszinierende Entdeckungen gemacht.
Bisher hatte Elli diese Beschreibungen nur überflogen, doch nun widmete sie sich ihnen mit neuer Aufmerksamkeit. Hölderlin hatte den Schmuckanhänger mit mathematischer Genauigkeit vermessen und notierte seine Beobachtungen: „Ein außergewöhnliches Schmuckstück, fast überirdisch. Die Fertigung geht weit über herkömmliche Juwelierkunst hinaus – eine Verkörperung mathematischer Kunst. Dieser Anhänger ist als Triple Torus gestaltet, mit drei gleich großen Öffnungen und einer dreidimensionalen Struktur, die Einfachheit und Komplexität gleichermaßen ausstrahlt. Unter dem Vergrößerungsglas offenbaren sich symmetrische Muster aus 24 harmonisch angeordneten heptagonalen Flächen, die in 168 Symmetrien (oder 336 mit Spiegelungen) verbunden sind. Das Ammolit leuchtet in atemberaubenden Reflexionen, die in tiefem Grün, leuchtendem Rot und strahlendem Blau schimmern, je nach Betrachtungswinkel. Ein Meisterwerk, das die Betrachter zur Erkundung der tiefen Verbindungen zwischen Mathematik, Kunst und Natur einlädt.“
Elli las fasziniert weiter. In einem späteren Eintrag, der eilig und voller Aufregung geschrieben war, berichtete Hölderlin von einer erstaunlichen Entdeckung. Er hatte eine Verbindung zwischen dem Schmuckstück und drei zentralen Versen im Hohelied der Liebe entdeckt. Der Anhänger begann zu leuchten und zu pulsieren, wenn genau diese drei Verse rezitiert wurden – besonders beim Wort „glossai“ im ersten Vers.
Die drei relevanten Verse waren der erste, der siebte und der dreizehnte Vers des Hohelieds aus Paulus’ Brief an die Korinther.
Im ersten Vers, so erklärte Hölderlin, werde die Liebe als Grundlage jeder Kommunikation beschrieben – sei es die menschliche Sprache oder die Kommunikation mit überirdischen Wesen. Ohne Liebe, schrieb er, seien alle Worte leer und bedeutungslos. Seine Übersetzung des ersten Verses lautete: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel rede, aber keine Liebe habe, bin ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“
Der siebte Vers, so führte er aus, habe eine besondere Bedeutung innerhalb des Gedichts. Er stünde im Zentrum des Hohelieds und hebe sich durch seine Struktur hervor. Der Vers symbolisiere die innere Kraft der Liebe, die Glaube, Hoffnung und Resilienz miteinander verbinde. Hölderlin betrachtete ihn als Wendepunkt, der die Liebe nicht nur von außen, sondern von innen heraus beschreibt. „Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie bewährt sich in Geduld“, lautete seine Übersetzung.
Der dritte entscheidende Vers war der dreizehnte, der abschließende Vers des Hohelieds. Dieser Vers, so erläuterte Hölderlin, offenbare die unvollkommene Natur der menschlichen Liebe – und dennoch liege in dieser Unvollkommenheit die größte Hoffnung. Er kündige eine Zeit an, in der Liebe, Glaube und Hoffnung in ihrer vollkommenen Form existieren würden. Seine Übersetzung dieses letzten Verses lautete: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die größte unter ihnen ist die Liebe.“
Als Elli weiterlas, stieß sie auf eine weitere verblüffende Enthüllung. Hölderlin hatte bemerkt, dass der Anhänger in der Nähe eines Spiegels beim Rezitieren der drei Verse ein inneres Flämmchen entwickelte. Dieses Licht schien aus der Tiefe des Ammolits zu kommen und erfüllte ihn jedes Mal mit einem Gefühl von Stärke und Klarheit.
Doch eine seiner letzten Notizen weckte ein Gefühl des Unbehagens in Elli. Hölderlin schrieb, dass der Anhänger ihm nicht nur Kraft verliehen habe, sondern ihm auch die Fähigkeit eröffnete, Spiegel als Pforten zu anderen Welten zu nutzen. Auf der anderen Seite dieser Pforte jedoch, so berichtete er, hatte er eine beängstigende Entdeckung gemacht – eine dunkle, verzerrte Version unserer Welt, die ihn an die Unterwelt erinnerte.
Elli legte die Notizen zur Seite und betrachtete das Amulett und den Anhänger. Die geometrischen Muster, die sich harmonisch über den dreidimensionalen Körper des Schmuckstücks erstreckten, schienen nicht nur ein Kunstwerk zu sein, sondern ein Schlüssel zu einer tieferen Wahrheit. Die Reflexionen des Ammolits flimmerten im schwachen Licht des Raumes und warfen bunte Schatten auf den Tisch – als ob sie die unsichtbaren Verbindungen zwischen Mathematik, Kunst und Natur erhellten.
Nachdenklich berührte Elli den Anhänger und flüsterte den ersten Vers des Hohelieds.
In diesem Moment spürte sie eine Resonanz, eine Vibration, die weit über die physische Welt hinausging. Ein tiefes Gefühl der Verbundenheit durchströmte sie. Elli wurde sich bewusst, dass sie am Rande einer Entdeckung stand, die die Grenzen ihrer Welt sprengen könnte.
Ihr Blick fiel auf den Spiegel an der Wand. Das Spiegelbild schien sie herauszufordern, ein stummer Dialog zwischen dem, was sie wusste, und dem, was sie noch nicht begreifen konnte. Doch sie spürte tief in sich, dass der Moment, den Schritt durch diese Pforte zu wagen, noch nicht gekommen war.
Inmitten der alten Worte und den unsichtbaren Fäden der Vergangenheit erkannte sie erneut, dass sie sich am Anfang eines wagemutigen Pfades befand. Sie stand am Rand einer Schwelle, die sie eines Tages übertreten würde. Noch nicht heute, vielleicht nicht einmal morgen. Aber bald.
Schreibe einen Kommentar