Szene 49 – Erinnerungen an die Dunkelheit
Sanfte, goldene Sonnenstrahlen fielen durch das große Fenster des kleinen, gemütlichen Cafés, in dem Elli, Stig und einige Aktivisten der Patientenbewegung zusammensaßen. Die Atmosphäre war freundlich, doch für Elli wirkte alles surreal.
Die Ereignisse der letzten Wochen hatten sie stark belastet, besonders wegen der ungewohnten Ausfälle in ihren Therapiesitzungen – etwas, das bisher nie vorgekommen war. Krankheitsbedingte Ausfälle und Timmeks seltener Urlaub hatten Ellis Schutznetz brüchig werden lassen, und ihre Gedankenschatten wuchsen stetig.
Stig saß neben ihr und hielt ihre Hand fest. Gegenüber hatten Runa, Lio, Dimi und Vinoa Platz genommen. „Waren die letzten Wochen für dich auch so schwer?“, fragte Vinoa mit zitternder Stimme, nachdem sie einen Schluck Tee genommen hatte.
Elli atmete tief durch und drückte Stigs Hand fester. „Ja, es waren wirklich harte Wochen. Bei mir sind mehrere Netzwerksitzungen und Therapietermine ausgefallen, und ohne die Unterstützung des Teams habe ich mich ziemlich verloren gefühlt. Und die Gedankenschatten … sie sind immer da, manchmal sogar stärker als früher.“
Lio nickte verständnisvoll. „Manchmal bricht das System einfach zusammen, und wir stehen plötzlich ohne die Hilfe da, auf die wir uns verlassen haben.“
„Genau“, sagte Elli leise. „Es gibt zwar zum Glück eine Krisen-Hotline, über die ich mit einem Arzt reden kann, aber es hat mir immer Sicherheit gegeben, das gesamte Team jederzeit erreichen zu können. Wenn das wegfällt, bleibt eine unsichere Leere. So etwas ist wirklich ungewöhnlich, und da muss bei Timmek und seinem Team momentan etwas gravierend schieflaufen. Meine größte Angst ist, dass ich irgendwann gezwungen bin, wieder Medikamente zu nehmen.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Ich habe so schlimme Erfahrungen damit gemacht. Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen.“
Lio sah sie interessiert an. „Was genau hast du erlebt?“
Elli seufzte und begann leise zu sprechen: „Als ich jünger war und zum ersten Mal in die Klinik musste, haben sie mich mit einem wilden Mix aus Medikamenten vollgestopft. Alles war hoch dosiert, und die Nebenwirkungen waren schrecklich. Trotzdem blieben die Symptome bestehen. Statt nach Alternativen zu suchen, haben sie einfach die Dosis erhöht. Als ich die Klinik verließ, ging es mir viel schlechter als vorher. Ich war kaum noch in der Lage, meinen Alltag zu bewältigen.“
Vinoa nickte mitfühlend. „Das klingt nach einer sehr dunklen Zeit. Möchtest du weiter darüber sprechen?“
Elli fuhr fort: „Ich hatte keine Erfahrung mit solchen Krisen und verstand die Symptome nicht. Ich hatte keine Wahl und musste tun, was man mir sagte. Eines Tages wollte ich die Pillen nicht mehr nehmen, da baute sich ein kräftiger Pfleger bedrohlich vor mir auf. Es wurde kaum mit mir gesprochen. Die Klinik setzte fast ausschließlich auf medikamentöse Behandlung. Meinen Freunden und meiner Familie wurde sogar abgeraten, mich zu besuchen. Sie sagten, mit mir sei in diesem Zustand kein Gespräch möglich.“
Elli stockte, als die unangenehmen Erinnerungen sie einholten. Sie schloss kurz die Augen und schüttelte leicht den Kopf. „Es war ein Desaster.“, sagte sie. Dann wechselte sie lieber das Thema. „Das war damals eine altmodische Klinik auf dem Land. Zum Glück habe ich später in einer fortschrittlicheren Tagesklinik ein Team gefunden, das verstand, dass die Medikamente eines meiner Hauptprobleme waren.
Die Ärzte dort halfen mir, meinen Körper in kleinen Schritten zu entgiften. Seitdem ging es mir meistens besser. Ich will unbedingt vermeiden, wieder in die Medikamentenfalle zu geraten.“ Elli war blass geworden. „Und jetzt habe ich Angst, dass es mir bald so schlecht gehen könnte, dass ich keine andere Möglichkeit mehr habe, als diese Pillen zu schlucken oder sogar wieder in der Klinik zu landen.“
Stig ergriff das Wort, seine Stimme war beruhigend. „So weit ist es noch lange nicht.“ Er lächelte leicht und sah Elli tief in die Augen. „Wir haben doch schon Schlimmeres überstanden – und in den meisten Fällen ohne Medikamente. Erinnerst du dich an die Phase, in der du dachtest, ich sei Gott und würde bei jedem Toilettengang die Welt neu erschaffen?“
Ein gequältes Lächeln huschte über Ellis Gesicht, und Stig lächelte zurück. „Ich muss der Welt wirklich nicht viel Positives abgewonnen haben, in dem damaligen Zustand, als ich dachte, sie wäre womöglich das Resultat eines solchen Schöpfungsakts.“
Vinoa neigte den Kopf zur Seite und lächelte verständnisvoll. „Manchmal sind es die absurdesten Momente, die uns zeigen, wie verzweifelt wir wirklich sind.“
„Ja“, sagte Elli nachdenklich. „Ich erinnere mich auch daran, wie ich einen Spiegel unter mein Kopfkissen legte, um mich vor Medusa zu schützen. Damals glaubte ich, gegen Titanen zu kämpfen.“
„Oder als du überzeugt warst, die Welt retten zu müssen, indem du nie links abgebogen bist“, erinnerte sich Stig. „Du warst fest entschlossen, immer den ‚rechten‘ Weg zu zeigen.“
Die Gruppe lachte leise, doch die Schwere des Gesprächs blieb. Elli seufzte. „Heute kann ich über manche dieser Erinnerungen lachen, aber damals war es alles andere als lustig.“
„Es klingt, als wärst du in einem Labyrinth aus Worten gefangen gewesen“, sagte Dimi nachdenklich.
„Ja, manchmal schienen Wörter plötzlich eine ganz andere Bedeutung zu haben. Bei jedem Wort mit der Vorsilbe ‚Ver-‘ habe ich gedacht, es müsse ‚fair‘ bedeuten, also bedeutete ‚verlaufen‘ für mich ‚fair-laufen‘“, sagte Elli. „Da haben wir natürlich häufiger aneinander vorbeigeredet.“
Stig lächelte leicht ironisch. „Ja, das war eine Phase, die mich oft auf die Probe gestellt hat. Aber mittlerweile verstehe ich, wie du funktionierst, und wir haben einen Weg gefunden, damit umzugehen.“
Elli nickte. „Es ist verrückt, dass ich Jahre vor der Pandemie schon fest davon überzeugt war, dass die Welt längst von einer Seuche heimgesucht worden war und die Behörden versuchten, es zu vertuschen. Ich habe überall Anzeichen dafür gesehen. Es war, als hätte ich die Zukunft vorhergesehen.“
Stig fügte mit einem zwinkernden Auge hinzu: „Wobei eine Pandemie wirklich kein extrem unwahrscheinliches Ereignis darstellt. Experten hatten ja längst vorhergesagt, dass so etwas eines Tages passieren könnte.“ Elli nickte zustimmend und zuckte ein wenig befangen mit den Schultern.
Stig nahm einen Schluck von seinem Getränk, schüttelte den Kopf und lachte etwas schnaufend in sich hinein, bevor er sich erinnerte: „Aber deine Gedankenschatten sind manchmal fast wie in einem Monty-Python-Sketch, zum Beispiel deine Konditionierung auf bestimmte Wörter, wie ‚einführen‘, ‚kommen‘, ‚kalt‘, ‚heiß‘ oder Ähnliches.“
Elli seufzte. „Ja, das führte früher häufiger zu Spannungen und machte Gespräche sehr anstrengend. Wenn ich sehr gestresst bin, kann ich manchmal auch heute noch ein bestimmtes, alltägliches Wort nicht so gut aushalten, ohne sehr starke Aversionen zu empfinden.“
Stig legte sanft seine Hand auf Ellis Schulter. „Mit der Zeit habe ich gelernt, wie ich damit umgehen kann, und ich reagiere viel ruhiger auf deine Gedankenschatten.“
Elli sah ihn liebevoll an. „Dafür bin ich dir sehr dankbar, Stig.
„Es gibt übrigens etwas, das ich hier entdeckt habe.“, sagte Elli nachdenklich. „Wenn in solchen Momenten Worte nicht mehr ausreichen, um miteinander zu reden, dann wirken Dinge, die im Hintergrund zwischen den Zeilen stehen. Es gibt dort etwas Magisches, das trotz allem verbindet und Kommunikation auch ohne Worte möglich macht. Ich vermute, dass es mit Liebe zu tun hat.“
Stig nickte und legte den Arm um Elli. „Das ist ein schönes Bild. Ich habe auch beobachtet, dass die Gedankenschatten weniger werden, je geduldiger und liebevoller auf dich reagiert wird und je weniger Druck und Zwang im Spiel ist. Wir haben einen Weg gefunden, diese Schatten zu kontrollieren.“
Elli seufzte erneut. „Das ist insgesamt aber in jedem Fall eine anstrengende Geschichte. Manche Erinnerungen sind fast lustig, aber in der Situation selbst waren sie grauenvoll. Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich dachte, meine Arme wären mit Säure übergossen worden. Es fühlte sich erschreckend real an.“
Die anderen verstummten, eine betretene Stille legte sich über die Runde. Dimi sagte schließlich leise: „Es ist gut, dass du so offen darüber sprichst. Solche Krisen bringen uns an unsere Grenzen, aber du hast es geschafft, dich durchzukämpfen.“
Elli atmete tief durch. „Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen, und ich rede auch nicht immer über alles. Aber ich habe gelernt, wie wichtig es ist. Oft reichen auch Andeutungen, damit andere wissen, wie es mir geht. Besonders wichtig ist das bei Menschen wie euch, meinen Therapeuten und Stig – Menschen, denen ich vertrauen kann.“
Wieder entstand eine Pause. Elli dachte im Stillen darüber nach, dass dieses Vertrauen natürlich abnahm, je stärker die Gedankenschatten wurden. Das war immer ein Warnsignal für sie und ein Zeichen, dass sie sich um ihre Erholung kümmern sollte.
Wenn sie massiv psychisch belastet war, dachte sie sogar manchmal über absurde Fragen nach, etwa ob ihre Familienmitglieder sie vielleicht vergiften wollten. Doch in der Regel gelang es ihr im Alltag, solche Gedanken sofort als Gedankenschatten zu erkennen.
Runa ergriff nun das Wort und nickte freundlich in die Runde. „Ja, das ist es, was uns in dieser Bewegung zusammenhält. Wir verstehen und vertrauen einander wirklich, weil wir ähnliche Dinge erlebt haben.“
Elli lächelte dankbar. „Es hilft mir sehr, dass ich mit euch darüber sprechen kann. Manchmal frage ich mich, wie ich das alles überstehen soll, aber dann erinnere ich mich daran, dass ich nicht allein bin.“
Stig drückte sanft ihre Hand und fügte hinzu: „Wir alle hier halten fest zusammen, um einander zu unterstützen. Auch wenn es schwierig wird, sind wir füreinander da.“
Nachdem die Gruppe ein paar Sekunden schweigend dagesessen hatte, brach Elli schließlich die bedrückende Stille. „Und MedüX? Wie soll es da weitergehen? Seid ihr da auch so verzweifelt?“
Elli konnte die drängende Sorge nicht unterdrücken, die in den vergangenen Wochen immer stärker geworden war – eine Sorge, die mit jeder neuen Drohung schwerer auf ihr lastete. Und ihre Gedankenschatten ließen sie immer wieder daran zweifeln, ob sie und ihre Freunde der Gefahr überhaupt noch gewachsen waren.
Was, wenn all ihre Bemühungen scheiterten und sie am Ende in einer ausweglosen Sackgasse endeten?
Ellis Worte schienen die Luft verdichtet zu haben, und für einen langen Moment blieb es bedrückend still in der Gruppe. Die Gesichter ihrer Freunde hatten sich verfinstert. Es war mehr als deutlich, wie sehr der Pharmaskandal und die Attacken und Drohungen gegen ihre Bewegung wie eine unsichtbare Last auf ihren Schultern lagen.
Elli ließ die Frage im Raum stehen, doch niemand antwortete. Es schien, als ob alle versuchten, das Thema MedüX beiseite zu schieben, als wäre es ein unausgesprochenes Tabu, das sie noch nicht zu fassen bekamen. Vinoa senkte den Blick auf ihre Hände, die nervös ihren Teebecher umklammerten. „Vielleicht sollten wir das vertagen“, murmelte sie schließlich. „Heute ist nicht der richtige Moment.“
Lio nickte nur stumm, und auch Stig drückte sanft Ellis Hand, als wollte er ihr wortlos versichern, dass sie noch Zeit hatten. Die Realität von MedüX lastete schwer auf ihnen allen, doch niemand wollte es aussprechen. Stattdessen herrschte ein stilles Einverständnis, das Thema auf einen anderen Tag zu verschieben.
Elli spürte, wie sich die Anspannung in ihrem Körper allmählich löste, auch wenn die offene Frage wie ein Schatten über ihnen schwebte. Sie ließ ihren Blick über die Gesichter ihrer Freunde gleiten. Trotz aller Müdigkeit und Verzweiflung war da noch etwas anderes – eine stille, aber kraftvolle Verbundenheit.
Für den Moment war es genug, einfach zusammen zu sein. Was auch immer die Zukunft bringen würde, sie waren nicht allein. Und vielleicht, dachte Elli, war genau das der einzige Schritt, den sie heute machen mussten.
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