Szene 12. Heimkehr in unruhige Gewässer
Die lang gezogene Landstraße schlängelte sich durch die sanften Hügel des Allgäus. Ein schwacher Regen setzte ein, kleine Tropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe des Wohnmobils. Stig warf ab und an einen besorgten Blick zu Elli, die in die Landschaft starrte, den Kopf an das Fenster gelehnt.
„Wir müssen ja nicht lange bleiben“, sagte Stig leise, seine Stimme verlor sich im Rauschen des Radios.
Elli lächelte gezwungen. „Ich weiß. Aber das sind meine Wurzeln. Egal wie vertrackt und kompliziert sie auch sein mögen.“
Der Wagen fuhr auf einen alten Bauernhof zu. Hühner flitzten über den Hof, dahinter stand das vertraute, aber leicht verfallene Bauernhaus aus Ellis Kindheit. Der Anblick des Gebäudes ließ in Elli eine Flut von Erinnerungen hochkommen, gute wie schlechte. Sie konnte das Dröhnen ihrer Gedankenschatten spüren, und sie hörte das Klirren von Glasflaschen und die undeutlichen Schreie von damals.
Ellis Mutter, eine Frau mit ergrautem Haar und vom Leben gezeichneten Zügen, kam zur Tür heraus. „Elli! Und Stig!“, rief sie, ihre Stimme trug dabei eine Mischung aus Freude und Nervosität.
Elli umarmte ihre Mutter, etwas steif, und spürte dabei den vertrauten Alkoholgeruch, der sie an die vielen Abende erinnerte, an denen sie Trostspenderin für ihre Mutter gewesen war. Dabei dachte sie unweigerlich an die dunklen Tage ihrer Kindheit, an die Nächte, in denen sie als junges Mädchen Tränen vergossen und versucht hatte, den Frieden zwischen ihren streitenden Eltern zu vermitteln.
Im Schatten des Türbogens, stand Ellis jüngere Schwester, Jori. Sie hatte gerötete Augen und blinzelte angestrengt ins Tageslicht, vermutlich waren das die Nachwirkungen eines längeren Abends.
Beim Hineingehen strich Elli beinahe unwillkürlich über ein verblasstes Foto von sich und ihrer Schwester als Kinder, das neben der Tür hing.
„Komm, ich zeige dir die Tiere“, sagte Ellis Schwester und führte sie weg. Als sie an einem Hasenstall vorbeikamen, in dem ein Kaninchen allein in einer Ecke hockte, versagte Ellis Stimme. Die Erinnerungen an die Käfige und Ställe von damals, in denen sie ihre Tiere nicht immer artgerecht gehalten hatte, ließen sie stutzen.
Ein Gefühl von Scham und Schuld überfiel sie.
„Es ist nicht einfach, oder?“, sagte Ellis Schwester leise, fast entschuldigend. Elli nickte nur. Worte schienen in diesem Moment unnötig.
Da öffnete sich die Tür zum Hof und Haron, Ellis Vater, trat zu ihnen an die Ställe. Er hatte leuchtende blaue Augen und trotz seines Alters war er mit seinem schneeweißen vollen Haar, eine stattliche Erscheinung. Doch die rötliche Farbe in seinem wettergegerbten Gesicht und sein rundlicher, fülliger Bauch, waren ein Zeichen seines regelmäßigen, beträchtlichen Alkoholkonsums.
Harons Miene war schwer zu deuten. „Ich hörte, ihr sprecht von den alten Tieren damals. Erinnerst du dich, Elli, wie oft du es versäumt hast, dich richtig um sie zu kümmern?“, sagte er mit einem Vorwurf in seiner Stimme.
Elli atmete tief ein, versuchte, sich zu beherrschen. „Ich war ein Kind, Vater.“
„Ein Kind mit Verantwortung“, erwiderte er scharf. „Du wolltest Haustiere und du hast es nicht geschafft, dich auch genug darum zu kümmern.“
Jori warf Elli einen vielsagenden Blick zu und Elli verzichtete auf eine Entgegnung. Wenn sie sich den aktuellen Zustand des Hofs anschaute, die Rinder im kleinen, viel zu dunklen Stall, dann sprach dies Bände über die hier praktizierten, zweifelhaften Vorstellungen von artgerechter Tierhaltung.
Den Abend verbrachte die Familie zusammen im Wohnzimmer. Elli setzte sich in den alten Ohrensessel, der in einer Ecke des großen Raumes stand. Ein Ort, der sie immer wieder in ihre Jugend zurückversetzte. Sie nahm einen Stapel vergilbter Blätter von der Ablage daneben, auf der auch ein paar Erinnerungsstücke aus ihrer Kindheit lagen. Eine dieser Erinnerungen war ein Gedicht, das sie im Alter von sechzehn Jahren verfasst hatte.
Stig, der ihr gegenüber auf dem Sofa saß und mit Elli’s Mutter plauderte, bemerkte, dass sie das Gedicht in der Hand hielt und lächelte sie aufmunternd an. Er wusste, dass diese Zeilen für sie eine besondere Bedeutung hatten.
Elli las leise die ersten Zeilen des Gedichts: „Es ist die Nacht, die mich erschreckt…“
(Hinweis: Das gesamte Gedicht findet sich im Anhang.)
Ihre Schwester schaute herüber. „Ist das eins von deinen Gedichten?“
Elli sah auf und antwortete mit einem schwachen Lächeln: „Ja, es war eine meiner ersten ernsthaften Versuche in der Lyrik. Es war eine schwierige Zeit für mich, und ich glaube, das Gedicht spiegelt das wider. Die Nacht war sowohl mein Zufluchtsort als auch meine größte Angst.“
Jori entgegnete kurz: „Ah … interessant,“ Es war aber offensichtlich, dass sie sich noch nie sonderlich für Ellis Gedichte interessiert hatte. Sie wendete ihre Aufmerksamkeit einer Zeitschrift zu, die auf ihrem Schoß lag.
Stig hielt wohl einen wertschätzenderen Kommentar für angebracht: „Kunst ist oft das Ventil, durch das wir unsere innersten Ängste und Hoffnungen ausdrücken. Dieses Gedicht zeigt, dass du schon in jungem Alter ein kreatives Talent hattest, Elli.“
Elli legte das Gedicht wieder auf den Stapel und seufzte. „Damals hat es mir vermutlich geholfen, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Aber es ist seltsam, hier zu sitzen und diese Zeilen jetzt, Jahre später, wieder zu lesen.“
Elli atmete tief durch, versuchte, die unangenehmen Erinnerungen an die vielen Abende, an denen sie heimlich in ihrem Zimmer geschrieben hatte, zu unterdrücken.
„Ich habe damals versucht, meine Gefühle und Gedanken zu ordnen. Oft habe ich auch kleine Erzählungen aufgeschrieben. Das Schreiben hat mir geholfen, mit all dem umzugehen“, antwortete Elli vorsichtig, um nicht alte Wunden aufzureißen.
Jori räusperte sich unangenehm und machte einen etwas missglückten Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Ich erinnere mich noch, wie du mir früher immer vorgelesen hast. Manchmal hat es geholfen, besser einzuschlafen, trotz… na ja, du weißt schon.“
Die Erwähnung der nächtlichen Streitereien ihrer Eltern ließ die Anspannung im Raum noch greifbarer werden. Elli erinnerte sich daran, wie sie und Jori oft eng aneinander gekuschelt in ihrem Bett gelegen hatten, die Decke über ihre Köpfe gezogen, in der Hoffnung, die lauten Stimmen auszublenden.
Der restliche Abend verlief angespannt. Alte Geschichten wurden aufgewärmt, dabei wurden heikle Themen vermieden. Einige Male versuchte Elli, ein schwieriges Thema anzusprechen, wurde aber immer wieder abgelenkt oder unterbrochen. Es war, als ob die Familie in einer Blase lebte, in der schmerzhafte Wahrheiten keinen Platz hatten.
Später am Abend zog Stig Elli zur Seite. „Ich weiß, wie schwer das für dich ist“, flüsterte er. „Aber denk dran, wir müssen ja nicht lange bleiben.“
Elli atmete tief durch und nickte. „Ich weiß. Es ist nur … es gibt so viele ungesagte Dinge, so viele Narben. Aber vielleicht ist es manchmal besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.“
Die beiden standen eine Weile schweigend da, bevor sie sich wieder der Familie zuwandten, fest entschlossen, das Beste aus dem restlichen Abend zu machen.
Schreibe einen Kommentar