Szene 40. Reflexionen der Vergangenheit – eine dunkle poetische Seelenreise
Elli saß allein im Wohnzimmer, eingehüllt in die Stille, die nur vom leisen Ticken der alten Wanduhr durchbrochen wurde. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, doch ihre Gedanken kreisten um die Ereignisse der vergangenen Tage. Jan und Karin, zwei engagierte Mitstreiter, waren spurlos verschwunden, und Mayas Zustand verschlechterte sich zusehends. Die Enthüllungen um den Pharmaskandal waren real, schmerzhaft real, und zehrten massiv an Ellis Nerven. Aber die Prophezeiung? Diese andere, tiefere Realität, in der sich das Mystische und Übernatürliche mischten, stellte eine ganz andere Herausforderung dar.
„Bin ich in einer Krise?“, fragte sie sich leise. „Kann ich meinen Sinnen noch trauen?“
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die dunklen Gedanken vertreiben, aber sie hielten sich hartnäckig. Ein Teil von ihr fragte sich, ob die seltsamen Begebenheiten, die sich in ihrem Leben häuften, nur in ihrem Kopf existierten – in den Schattengedanken, geboren aus Angst und Überlastung.
Doch dann dachte sie an Stig, Dimi, Lio, Vinoa, Runa und Adisa – ihre treuen Gefährten, die diese düstere Reise mit ihr durchlebten. Und sie dachte an Maya, an die wachsende Panik, die in ihrer Bewegung um sich griff, und an die unheimliche Stille, die immer mehr Aktivisten verschluckte – ohne dass etwas passierte, ohne dass Hilfe kam oder sie etwas unternehmen konnten.
Nein, das war keine Einbildung. Der Pharmaskandal war echt, und die Bedrohung durch den Konzern war allgegenwärtig. Ein Schauer lief Elli über den Rücken, trotz der Decke, die sie sich fest um die Schultern gezogen hatte.
Aber die Prophezeiung? War sie Teil derselben Realität oder ein Spiel ihrer Fantasie?
In ihren Händen hielt sie das Amulett, das jetzt mit einem neuen Anhänger, dem Fundstück aus Hölderlins Versteck, an der Kette hing. Sie beobachtete, wie das Amulett sich veränderte – von der Version, die sie von Timmek erhalten hatte, zu der Version mit den christlichen Schriftzügen. Diese seltsamen Verwandlungen waren für Elli der Beweis, dass die Grenzen der Realität viel fließender waren, als sie je geglaubt hatte.
Aber wo endete die Wahrheit, und wo begann die Einbildung? Welche Rolle spielte sie selbst in dieser Geschichte? Timmek und das mysteriöse Gegenüber im Tor Chat hatten diese Frage nie direkt beantwortet.
Ihr Blick fiel auf ihr altes Tagebuch, das sie seit Kurzem wieder zur Hand nahm. Jahrelang hatte es unbeachtet im Regal gestanden, doch nun zog es sie wieder an, wie ein alter Freund, der ein lang gehütetes Geheimnis teilen wollte. Sie schlug es auf und las ein Gedicht, das sie als Jugendliche geschrieben hatte:
Hungriges Kind
Du stehst in deinem Haus des Willens,
oft an deines Heimes Tür.
Du klopfest an und suchest weit
den Faden blauer Einsamkeit.
Komm und singe in die Rose,
komm und lehre sie dafür –
Durst des Stillens,
Stillenslose.
Weises um Weißes vergeht doch im Wind.
Elli starrte auf die Zeilen, als ob sie eine verborgene Botschaft darin suchte. Sie hatte dieses Gedicht in einer Zeit geschrieben, als sie von Unsicherheit und inneren Konflikten geplagt war. Es sprach von Selbstreflexion und der tiefen Sehnsucht nach Sinn und Verständnis.
„War ich damals schon anders?“, fragte sie sich.
Die Welt schien ihr damals bereits oft so bedrohlich, und die Fragen, die sie sich stellte, schienen intensiver als die eines Großteils ihrer Altersgenossen.
Die Zeilen des Gedichts hallten in ihr nach. Das Haus des Willens, der Faden blauer Einsamkeit – sie hatte sich immer als Außenseiterin gefühlt, als Fremde in einer sich vor ihr verschließenden Welt, deren inneres Regelwerk ihr widersprach. Sie suchte nach ihrem Platz, nach ihrem Sinn. Doch was war richtig in einer Welt, die so viele Fragen aufwarf und deren Geschichte so viele dunkle Abgründe besaß?
Insbesondere der neueste Teil dieser Geschichte, aus der Zeit ihrer Großeltern in Deutschland ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Elli legte das Tagebuch zur Seite und starrte in die Dunkelheit des Raumes. Sie fühlte die Schwere der Welt auf ihren Schultern. Und auch wenn ihre Freunde diese Reise mit ihr teilten, fühlte sie sich einsamer denn je. Es war eine Einsamkeit, die nicht durch Nähe gelindert werden konnte – eine Einsamkeit, die aus den unendlichen Fragen stammte, die nur sie allein beantworten musste.
Die Prophezeiung, das Amulett, ihre Zweifel – all das war Teil ihrer Geschichte. Und sie spürte, dass sie auf einen weiteren dunklen Abgrund zuging, eine Reise ins Ungewisse. Aber eines wusste sie: Sie würde nicht ruhen, bis sie die Wahrheit gefunden hatte, egal wie düster oder surreal sie sein mochte.
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