Szene 42 – Gewobene Realitäten – Reflexionen über Arachne und Metamorphose
In der gemütlichen Wärme ihres Wohnzimmers sitzt Natali, eingehüllt in eine weiche Decke, mit ihrer Basenji-Hündin auf dem Schoß, während ihr Mann gegenüber in seinem Sessel wieder einmal vertieft in Ovids Metamorphosen liest. Die flackernden Flammen des Kamins werfen ein sanftes Licht auf die Seiten des alten Buches und tauchen das Zimmer in eine Atmosphäre der Geborgenheit. Natali streicht sanft über das Fell ihrer Hündin und spürt die beruhigende Wärme ihres Körpers, die ihr hilft, die Last der vergangenen Tage abzuschütteln.
Neben sich hat Natali Leckerchen für ihre Hündin liegen und redet mit ihr, als ob diese ihre ganzen Sätze versteht. Sie fragt, welches Leckerchen sie lieber haben möchte, und die Hündin deutet mit der Schnauze auf die Hand, in der das begehrtere Leckerchen angeboten wird. Diese Übung gehört zu den weniger komplexen Kommunikationsleistungen, zu denen die Hündin fähig ist. Natali lächelt, als sie es ihr reicht, und beobachtet, wie schnell die kleine Gestalt sich über das Leckerchen hermacht.
Natali und ihr Mann sind immer wieder beeindruckt, wie weitgehend die Kommunikation zwischen ihnen und ihrer Hündin funktioniert. Bei Spaziergängen diskutieren sie mit ihr zum Beispiel gerne an Wegkreuzungen, in welche Richtung sie weitergehen sollen. Die Hündin hat selbst Möglichkeiten vorgeschlagen, wie sie ihre Vorlieben verdeutlichen kann.
Ihr Mann hebt den Blick von seinem Buch und lächelt sanft. „Hör mal, Natali“, beginnt er, „hier ist die Geschichte von Arachne. Sie war eine talentierte Weberin, die sich mit der Göttin Athene anlegte.
Arachne wob einen Wandteppich, der die Fehler der Götter darstellte. Athene, beeindruckt und zugleich erzürnt über diese Herausforderung, verwandelte sie schließlich in eine Spinne.“
Natali legt die Leckerchen zur Seite und blickt ihn interessiert an.
„Es ist interessant“, fährt ihr Mann fort, „wie Ovid die Verwandlung nutzt, um über Stolz, Talent und letztlich über die Beziehung zwischen Menschen und dem Göttlichen zu sprechen. Es geht um einen Konflikt zwischen Mensch und Göttlichkeit: Arachne erscheint in gewisser Weise als stolz und vermessen, indem sie behauptet, dass sie besser weben kann als die Göttin Athene. Als die beiden einen Wettbewerb im Weben austragen, zeigt Arachne in ihrem Wandteppich die Fehler und Vergehen der Götter, während Athene Szenen ihrer eigenen Triumphe darstellt. Arachnes Arbeit ist dabei tatsächlich technisch tadellos, aber sie wird von der Göttin für ihren Stolz und ihre Kühnheit bestraft, indem sie in eine Spinne verwandelt wird. Hier könnte man argumentieren, dass Athene, trotz ihrer Göttlichkeit, nicht über ihren eigenen Stolz und ihre vorgefassten Meinungen hinausblicken kann und daher unfähig ist, Arachnes Talent und Kritik zu akzeptieren.“
Natali nickt und schaut nachdenklich in die Flammen im Kamin. „Das zeigt, wie Verwandlung mehr ist als nur physisch. Es ist auch ein Wechsel der Perspektive. Arachne wird bestraft, weil sie die Wahrheit in ihrer Kunst zeigt – eine Wahrheit, die die Götter nicht sehen wollen.“ Sie wirft einen Blick auf ihre Hündin. „Und manchmal tun wir dasselbe mit Tieren. Wir verweigern ihnen unsere volle Aufmerksamkeit und erkennen ihre Intelligenz und ihre Emotionen nicht. Vielleicht, weil wir die Vorstellung nicht akzeptieren wollen, dass sie in der Lage sind, so komplex zu denken und zu fühlen wie wir.“
„Genau“, sagt ihr Mann. „Es ist wie bei der Geschichte von Arachne – wir sind blind für das, was uns nicht in den Kram passt. Aber Verwandlung, Metamorphose, zeigt uns immer wieder, dass nichts festgeschrieben ist. Goethe und Hölderlin haben diese Idee ebenfalls aufgegriffen. Für Hölderlin war die Liebe der zentrale Punkt in seinem Hyperion – sie ist die treibende Kraft der Transformation, nicht nur in der Natur, sondern auch in uns selbst.“
„Liebe ist Transformation“, sagt Natali nachdenklich. „Und für Hölderlin war sie außerdem die reinste Form der Kommunikation, eine, die über Worte hinausgeht.“
Ihr Mann nickt. „Ja, Liebe beginnt in uns selbst und dehnt sich auf andere aus. Sie schafft Resonanz, Verbindungen, die über das Offensichtliche hinausreichen. Genau wie in den Metamorphosen bei der Geschichte von Echo und Narziss – da sehen wir, wie Verwandlung und Liebe untrennbar miteinander verknüpft sind.“
Natali runzelt nachdenklich die Stirn. „Es ist im Grunde wie das, was Timmek direkt zu Beginn in meinem Roman sagt: ‚Sichtbar kann nur das sein, worauf wir den Blick richten.’“
Eine kleine Pause entsteht. Dann sagt Natali: „Ich finde sogar, dass wir nur das sehen können, was wir überhaupt für möglich halten – andernfalls schauen wir gar nicht erst hin.“ Sie denkt kurz nach und fügt dann hinzu:
„Wir übersehen oft die verborgenen Fähigkeiten und Emotionen in der Welt um uns herum. Das betrifft zum Beispiel unseren Umgang mit Kindern, und in jedem Fall auch mit Tieren.“
Ihr Mann nickt zustimmend. „Das ist wahr. Und manchmal sehen wir nur das, was wir sehen wollen, weil wir mit den Konsequenzen der vollen Wahrheit nicht umgehen können. Arachne wurde erst nach ihrer Verwandlung für ihr Talent anerkannt – als die Göttin ihren Stolz überwunden hatte. Aber es war zu spät, Arachne war bereits in eine Spinne verwandelt.“
Natali streicht gedankenverloren über das Fell ihrer Hündin. Sie spürt, wie tief die Verbindung zu dem Tier reicht, eine Verbindung, die sie früher nicht für möglich gehalten hätte. „Ja, genau“, sagt sie nachdenklich, „Bei uns war es ähnlich. Wir haben uns früher nicht vorstellen können, wie komplex Tiere denken und fühlen. Wir haben fast auf sie herabgesehen. Darum haben wir auch nicht bemerkt, wie weitgehend wir mit ihnen kommunizieren können. Wir haben es nicht für möglich gehalten und darum haben wir es auch nicht gesehen.“
Ihr Mann nickt, steht auf und hockt sich vor Natalis Sessel, um die Hündin liebevoll zu streicheln. „Das stimmt leider“, sagt er. „Bevor du mich überredet hast, einen Hund in unsere Familie aufzunehmen, hatte ich vollkommen zu Unrecht keine gute Meinung über diese wundervollen Vierbeiner. Ich dachte, sie wären hauptsächlich kriecherisch und unterwürfig, dumm und würden stinken. Ich war damals eher ein Katzenfreund, doch ich habe mich stark getäuscht. Das ist mir inzwischen natürlich klar. Das zu erleben, war wirklich ein Augenöffner für mich. Es war richtig, dass wir deshalb auch unseren Lebensstil geändert haben und uns jetzt überwiegend vegan ernähren.“
Natali lächelt, berührt von der Tiefe des Gesprächs. Ihr Blick fällt auf die Hündin, die auf ihrem Schoß liegt und die Streicheleinheiten genießt.
Ihr Mann wendet sich ihr zu. „Du hast bei unserem letzten Gespräch das Thema Resonanz erwähnt, mit dem du dich in deinem Roman beschäftigst. Weißt du, was mir bei vielen meiner antiken Texte und Dichtungen immer wieder auffällt? Sie handeln von Kommunikation, Resonanz und Liebe. Diese drei Elemente sind untrennbar miteinander verbunden.“
Natali nickt nachdenklich. „Das ist erstaunlich, das ist fast die Quintessenz des aktuellen Stands meiner Schreibarbeiten. Die Art und Weise, wie wir kommunizieren und resonieren, spiegelt unsere Fähigkeit zu lieben wider.“
„Genau“, sagt ihr Mann. „Und diese Geschichten lehren uns etwas Wichtiges über unsere eigene Wahrnehmung der Welt. Unsere subjektive Sicht ist oft eingeschränkt. Wir sehen die Welt durch den Filter unserer Erfahrungen, Vorurteile und Ängste.“
„Aber Kommunikation und Resonanz, vor allem wenn sie auf Liebe und Vertrauen basieren, können uns helfen, diese Einschränkungen zu überwinden“, fügt Natali hinzu. „Indem wir mit anderen kommunizieren, denen wir vertrauen können, dass sie es aufrichtig mit uns meinen, erweitern wir unseren Horizont. Wir bekommen Einblicke in andere Perspektiven und Erfahrungen, die unsere eigene Sichtweise bereichern und uns näher an eine objektivere Wahrheit heranführen.“
„Das ist die Schönheit der menschlichen Erfahrung, nicht wahr?“, sagt ihr Mann lächelnd. „Unsere Suche nach Wahrheit ist unendlich. Aber gerade in dieser Suche, in der Kommunikation und Resonanz mit anderen, liegt unsere größte Stärke. Und im Zentrum von all dem steht die Liebe – die Liebe zu uns selbst, zu anderen und zur Welt um uns herum.“
Natali lächelt, während sie ihre Hündin betrachtet, die jetzt ruhig atmet. „Liebe ist wirklich der Schlüssel zu allem. Sie ist die Kraft, die uns verbindet und uns erlaubt, über uns selbst hinauszugehen.“
In diesem Moment der Stille, im warmen Schein des Kamins, fühlt sich Natali verbunden – mit ihrem Mann, mit ihrer Hündin, mit der Welt ihrer Romanfiguren und mit der unendlichen Kette von Geschichten, die Menschen seit Jahrtausenden miteinander verknüpfen.
Schreibe einen Kommentar