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Die Sonne war hinter den Hochhäusern von Essen verschwunden, und die Dämmerung legte sich wie ein Schleier über die Stadt. Elli, Lio und Dimi standen in einer belebten Fußgängerzone, umgeben von Passanten, die geschäftig an ihnen vorbeieilten. In ihren Händen hielten sie Stapel von Flyern mit Informationen über die Patientenbewegung „Psychiatrie mit Menschlichkeit“.
Die drei arbeiteten seit Stunden unermüdlich daran, die Flyer zu verteilen, doch die Anspannung zwischen ihnen war spürbar. Das Thema MedüX Pharma hing permanent unausgesprochen in der Luft. Lio schien trotz allem vor Energie zu sprühen und verwandelte die Anspannung in Engagement beim Werben für ihre Bewegung. Dimi war deutlich zurückhaltender und wirkte noch immer sichtlich besorgt. Elli versuchte, zwischen den beiden zu vermitteln, doch ihre eigene Unruhe war nicht zu übersehen.
„Wir müssen das Risiko eingehen“, sagte Lio schließlich, als für einen Moment keine Passanten in der Nähe waren. Er war gerade damit beschäftigt, einen neuen Karton Flyer aufzubrechen. „MedüX Pharma muss zur Rechenschaft gezogen werden.
Diese Daten, die wir haben, könnten Tausende Leben retten.“
Dimi schüttelte den Kopf und warf einen besorgten Blick auf eine Gruppe Passanten, die sich ihnen näherte. Er dämpfte die Stimme und fuhr fort: „Aber wir sprechen hier von illegalem Hack, Lio. Wenn das rauskommt, sind wir erledigt. Unsere Jobs können wir vergessen. Wir haben dann das Vertrauen in uns als IT-Fachleute und Security-Experten verspielt.“
Elli versuchte, ruhig zu bleiben, doch ihre Stimme zitterte leicht. „Dimi hat recht. Wir müssen vorsichtig sein. Wir haben bereits Drohungen erhalten. Was, wenn wir am Ende scheitern? Was, wenn wir erwischt
werden? Es könnte alles umsonst gewesen sein, und wir könnten am Ende trotzdem auch noch als straffällig dastehen.“
Lio trat einen Schritt näher, seine Augen funkelten vor Entschlossenheit. „Und was, wenn wir nichts tun? Die Leute haben ein Recht darauf zu wissen, was MedüX Pharma ihnen antut. Wir können nicht einfach zusehen, ohne etwas dagegen zu unternehmen.“
Dimi verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. „Du hast vor Kurzem selbst noch gewarnt und gezögert, Lio. Plötzlich bist du so entschlossen. Was, wenn am Ende jemand von uns wirklich Schaden nimmt? Das war keine leere Drohung, die wir erhalten haben.“
Lio wirkte jetzt aufgebracht. Er legte einen Stapel Flyer zur Seite und machte ein paar Schritte auf Dimi zu. „Du jammerst immer nur weiter von Bedrohung und Risiko, Dimi! Du willst dich wegducken, Angst haben und tatenlos zusehen. Bitte, dann mach das!
Aber was ist dann mit den Menschen, die im Moment jeden Tag die Pillen schlucken, die Pillen von diesem Piratenkonzern, und dadurch wirklich Schaden nehmen? Ist dir das egal? Kannst du dann in Zukunft ruhig schlafen?“, fragte er mit blitzenden Augen.
Eine junge Frau, die sich eigentlich für einen der Flyer interessiert hatte, wich zurück, machte ein erschrockenes Gesicht und entschied sich, lieber schnell weiterzugehen. Elli trat beschwichtigend zwischen die beiden und deutete auf die Frau, die fluchtartig die Szene verließ. „Meint ihr nicht, dass es etwas unangebracht ist, das hier so lautstark zu diskutieren?“, fragte sie.
Lio und Dimi reagierten beide etwas betroffen. „Du hast recht, Elli. Wir gehen alle im Moment auch zu sehr auf dem Zahnfleisch. Lass uns die Diskussion verschieben“, sagte Lio.
Dimi schnaufte nur und machte sich auf den Weg, einer Gruppe interessierter Leute ein paar Flyer in die Hand zu drücken.
Lio strich seine orange gefärbten Haare aus dem Gesicht und blickte Elli mit einem sehr ernsten Ausdruck an. „Elli, du weißt, dass ich nicht leichtfertig bei so etwas bin. Ich habe mir eigentlich geschworen, niemals auf die andere Seite zu wechseln. Ein solcher Hack ist gegen alles, was mir heilig ist. Doch ich sehe keinen anderen Weg.“
Elli presste die Lippen aufeinander und nickte. „Ich sehe auch keinen anderen Weg, Lio. Mir gefällt das nicht, aber im Grunde steht es für mich auch längst fest. Und Dimi weiß es auch. Er will es nur nicht wahrhaben.“
Den restlichen Tag über vermieden sie das Thema, um sich weitere Auseinandersetzungen zu ersparen. Doch jedem von ihnen war anzusehen, dass ihre Gedanken ständig um die schwierige Entscheidung kreisten, die vor ihnen lag.
Sie waren da in etwas hineingeraten, das das Potenzial hatte, ihre gesamte Zukunft zu erschüttern. Und sie ahnten, dass der vorsichtige Dimi mit seiner Warnung nur allzu richtig gelegen haben könnte:
„Was, wenn am Ende jemand von uns wirklich Schaden nimmt?“
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