Kapitel 20 – Initial
Der Herbst hat das Allgäu in ein melancholisches, fast träges Licht gehüllt. Die jugendliche Elli steht am Ufer. Vor ihr liegt der See wie ein stilles Auge, das den grauen Himmel widerspiegelt, dicht von Wolken verhangen. Die Bäume, die den See umrahmen, tragen ihre letzten Blätter, von denen bereits unzählige wie kleine Boote auf dem Wasser treiben.
Immer wieder erhebt sich ein Windzug, durchbricht die Stille und heult durch die kahlen Äste. Die Kälte kriecht wie ein leiser Schatten durch Ellis Kleidung. Sie kniet sich nieder, ihre Finger graben sich in den kalten, durchnässten Boden. Tränen laufen ihre Wangen hinab, tropfen auf die Erde. Sie hatte gehofft, dass der Spaziergang am See ihr helfen würde, die Nachricht von Lisas Tod zu verarbeiten – doch die Traurigkeit in ihr ist wie ein Schatten, der nicht weichen will.
Ihr Blick verliert sich in der Ferne, über das ruhige Wasser hinweg. Plötzlich ist es, als würde der See vor ihr in Bewegung geraten. Der Wind peitscht ihr wild ins Gesicht. Die Wellen werden zu reißenden Fluten, die Strömung stark und gnadenlos. Das Wasser ist kalt, erbarmungslos und zieht sie immer wieder nach unten. Ihre Lungen brennen, ihr Herz pocht in wilder Panik.
Immer wieder schafft sie es, sich zur Wasseroberfläche zu kämpfen, nur um erneut von den Fluten verschlungen zu werden. Die tosende Strömung lässt keinen Raum für Ruhe. Am Horizont erscheint eine kleine Insel – ein winziger Fleck in der endlosen Wasserwüste. Mit aller Kraft konzentriert sie sich darauf, dorthin zu schwimmen, jeder Armzug ein Akt des Widerstands, jedes Atemschöpfen ein Zeichen ihres Willens zu überleben.
Doch ihre Kräfte schwinden, und für einen Moment ist da nur Dunkelheit. Elli kauert sich am Seeufer zusammen. Ein tiefes Schluchzen durchfährt ihren gesamten Körper.
Plötzlich reißt ein Windstoß Elli zurück in die Wirklichkeit. Sie ist nicht in den tosenden Fluten, die sie zu verschlingen drohen. Sie ist hier, kniet sicher am Ufer des Sees. Der Boden unter ihren Knien ist kalt, die Erde regennass, aber fest. Und doch fühlt es sich an, als stünde ihr das Wasser noch immer bis zum Hals.
„Ich bin eine Kämpferin!“ flüstert sie in den Wind, als ob die Worte sie retten können. „Ich werde nicht ertrinken.“
Langsam hebt sie den Kopf, blickt auf die ruhige Wasseroberfläche, die den Himmel wie einen Spiegel zurückwirft. In den Wellen scheint etwas aufzublitzen – ein Lichtstrahl, der zu ihr hinüberspringt. Für einen Moment glaubt sie, die Insel aus ihrer Vision in der Ferne zu sehen.
Dann ist das Bild verschwunden. Nur der See, der Wind und das graue Licht des Herbstes bleiben. Elli atmet tief durch und steht langsam auf, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischt. Mit einem letzten Blick auf das Wasser wendet sie sich ab und macht sich auf den Heimweg.
Die Wolken ziehen sich zusammen, und der Himmel droht, in einem Sturm zu explodieren. Doch Elli weiß: Wie immer wird sie dem Sturm entgegentreten. Denn solange sie kämpft, kann sie nicht wirklich untergehen.
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