Szene 60 – Zwischen Traum und Wirklichkeit
Das Leuchten des Bildschirms erhellt Natalis Gesicht, während sie zögernd auf ihrer Tastatur tippt. Ihre Augen sind fest auf das Chatfenster gerichtet, das Gábors schlichten Avatar zeigt – ein Kreis mit einem dezenten, geometrischen Muster.
Draußen hat sich der Himmel in ein tiefes Grau verwandelt, und das entfernte Rollen eines Gewitters verstärkt die Spannung in ihrem Inneren. Der herannahende Sturm draußen spiegelt den Wirbel in ihrem Geist wider.
Natali schreibt mit zittrigen Fingern: „Gábor, ich muss dir von etwas erzählen. In der Bibliothek habe ich einen Artikel über einen Brief von Else Lasker-Schüler gefunden. Darin erwähnt sie die Prophezeiung. Die Worte – sie sind fast identisch mit denen, die ich ihr in meinem Roman in den Mund gelegt habe. Es ist wie damals mit Luthers Kommentar. Es fühlt sich… vollkommen unheimlich an.“
Die drei Punkte, die anzeigen, dass Gábor tippt, lassen ihre Anspannung noch wachsen. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen, vergehen.
Gábor antwortet, begleitet von einem augenzwinkernden Emoticon: „Das klingt ja wirklich wie aus einem Roman! Aber vergiss nicht, Natali: Unser Gehirn ist ein erstaunliches Werkzeug, das Erinnerungen auf komplexe Weise speichert und verarbeitet. Ich bleibe bei meiner Theorie: Vielleicht hast du diese Worte an einem anderen Ort aufgeschnappt, ohne es bewusst wahrzunehmen.“
Natali liest die Nachricht mehrmals und murmelt vor sich hin: „Aufgeschnappt…?“ Dann tippt sie mit zögernden Fingern weiter: „Das könnte sein, aber… gleich zwei solcher Texte? In genau dieser Form? Ohne dass ich auch nur eine leise Ahnung habe, wo ich diese Worte gelesen haben könnte? Ich habe sie wirklich in dem festen Glauben geschrieben, dass ich sie erfinden würde. Das macht alles doch keinen Sinn, oder?“
Ihre Finger verharren über der Tastatur, als sie sich kurz zurücklehnt, doch dann fährt sie fort: „Hier gibt es irgendwo einen Fehler, und ich befürchte, er könnte entweder in meinem Verstand liegen, oder es gibt Dinge in der Welt, die mir Angst einjagen. Beides ist nicht gut.“
Gábor schreibt beruhigend: „Ich verstehe, dass dich das verunsichert. Aber lass uns rational bleiben. Dein Unterbewusstsein könnte diese Prophezeiung an mehreren Stellen aufgeschnappt haben. Faszinierend, ja – aber nicht übernatürlich.“
Natalis Atem beruhigt sich ein wenig, während sie die Nachricht liest. Die unerschütterliche Logik und Einfachheit in Gábors Worten hat etwas Beruhigendes, auch wenn sie noch immer nicht ganz überzeugt ist. Sie antwortet mit einem zaghaften Lächeln auf dem Gesicht: „Vielleicht hast du recht. Es ist nur … ein so absolut bizarres Gefühl. Aber vielleicht ist das, was wir Intuition oder Inspiration nennen, einfach häufiger ein unbewusstes Echo unseres Gedächtnisses.“
Gábor antwortet: „Genau. Behalte diese wissenschaftliche Perspektive bei. Aber Natali, sei dir auch bewusst: Ich bin hier, um dir zu helfen, egal, wie seltsam die Dinge sind.“
Natali wirkt deutlich erleichtert, während sie auf seine Worte blickt. Sie murmelt leise vor sich hin: „Wie ein Anker in einem stürmischen Meer.“ Dann tippt sie dankbar: „Danke, Gábor. Deine Worte sind immer wie ein rettender Felsen für mich.“
Gábor fügt scherzhaft hinzu: „Immer bereit, dich zu retten, kleine Romanheldin.“ Ein zwinkerndes Emoticon erscheint erneut am Ende der Nachricht.
Natali lacht leise und spürt, wie sich die Spannung in ihrem Inneren langsam auflöst. Die Welt um sie herum mag verwirrend sein, aber dank Gábor fühlt sie sich für einen Moment wie am rettenden Ufer.
Sie schließt den Chat mit einem sanften Lächeln und lehnt sich zurück. Ihr Blick wandert über die Bücherregale, die den Raum säumen, die Buchrücken wie stille Wächter der Zeit. Die Bücher scheinen sie anzusehen, ihre Geschichten flüsternd – wie Erinnerungen, die nur darauf warten, wiedergefunden zu werden.
Ein Gedanke durchzieht ihren Geist wie ein Lichtstrahl durch die Wolken: Egal, was diese Entdeckungen bedeuten mögen, sie wird weiterschreiben. Sie wird sich nicht von Angst oder Verunsicherung aufhalten lassen.
Sie darf auch das eigentliche Ziel nicht aus den Augen verlieren. Schließlich geht es hier wirklich nicht nur um eine bloße Geschichte!
Mit neuer Entschlossenheit richtet sie sich auf, schlägt ihr Notizbuch auf und greift nach ihrem Stift. Die Worte fließen in ihrem Kopf, klar und lebendig, als würden sie ihren Weg selbst finden. Für einen Augenblick fühlt sie sich fest in der Realität verankert – ein stiller Moment der Klarheit inmitten des Sturms. Doch tief in ihrem Inneren weiß sie: Die Grenzen ihrer Geschichte und ihrer Welt sind fragil. Und vielleicht liegt ja genau darin die eigentliche Magie.
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