Eine junge Frau mit welligem, braunem Haar sitzt nachdenklich auf einem Balkon und hält ein Buch mit dem Titel 'Rilke' in den Händen. Hinter ihr erstreckt sich eine wunderschöne Stadtlandschaft mit historischen Gebäuden und einer großen Kuppelkirche im Zentrum. Der Himmel ist sonnig und von sanften Wolken durchzogen, was der Szene eine ruhige, inspirierende Atmosphäre verleiht. Die Frau ist in einen weichen, beigen Cardigan gehüllt und wirkt vertieft in ihre Gedanken, während sie den Ausblick genießt.

Kapitel 2 – Szene #6

Szene 6. Rilkes Ringe – Reflexion über Wachstum und Leben

Ein sanfter Wind trägt den Geruch von Stadt und Spätsommer zu Natali, als sie auf ihrem Balkon sitzt. Das alte Gedichtbuch liegt in ihren Händen, und sie liest und liest wieder Rilkes Zeilen, lässt jede von ihnen auf sich wirken.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.“

(Hinweis: Das gesamte Gedicht findet sich im Anhang.)

Die Worte sind so vertraut, fast wie ein alter Freund, den man nach Jahren wiedertrifft. Sie lässt das Buch sinken und schließt die Augen, während der Klang der Dichtung in ihr nachhallt.

Ein Gedanke, ein Gefühl, drängt sich in ihren Kopf. Sie erinnert sich an einen ihrer wenigen verbliebenen Tagebucheinträge. Nach einigem Suchen findet sie ihn. Er stammt aus einer Zeit, in der sie noch jung war, voller Energie und Entschlossenheit.

In fließender, jugendlicher Handschrift hat sie geschrieben: „Rilkes Ringe – so sehr fühlte ich mich heute von ihnen berührt. Das Leben in Ringen, wachsend und sich stetig ausdehnend. Vielleicht ist es das, was ich suche, dieses stetige Wachstum. Seine Worte erinnern mich daran, dass das Leben immer weitergeht, sich immer erweitert, auch wenn wir es manchmal nicht sehen können.“

Sie lächelt beim Lesen ihrer eigenen Worte, erinnert sich an die junge Frau, die sie einst war. Die Reflexion über Rilkes Gedicht, die tiefe Resonanz, die sie damals gespürt hat, ist immer noch in ihr. Es ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Gedicht, sondern auch eine mit sich selbst, ihrer Position in der Welt, ihrer eigenen Reise; Und das Suchen und Ahnen, dass es einen kraftvollen Kern gibt, der im inneren der Weltenkreise, alles antreibt und zusammenhält.

Nachdem sie den Eintrag gelesen hat, lehnt sie sich zurück und betrachtet die Stadt um sie herum. Es scheint, als wäre dieser Moment – die Stadt, das Gedicht, der alte Tagebucheintrag – alles miteinander verbunden, alles Teil der wachsenden Ringe des Weltgeschehens; Und als wären die winzigen Ringe ihres eigenen Lebens ein Teil der immer weiter werdenden Ringe der Menschheitsgeschichte.

Mit einem fast feierlichen Gefühl folgt ihr Blick einem Schwarm Schwalben und sie beobachtet fasziniert, wie die flinken Vögel über den Dächern ihre Flugbahnen ziehen.

Doch dann kriecht etwas in ihr empor und sie schaudert ein wenig. Ihre Gedanken wandern zurück in die nähere Vergangenheit und auf einmal hat sie das Gefühl, eine Wolke sei vor die Sonne gezogen. Als sie aufblickt, sieht sie jedoch nur strahlend blauen wolkenlosen Himmel.

Sie seufzt tief. Ja, sie war damals eine junge Frau, voller Energie und Neugier. Doch sie war auch noch ahnungslos und wusste nicht, dass sie schon bald viele abgrundtiefe Täler zu durchschreiten haben würde. Wie oft hatte sie im inneren Kern ihrer Kreise nur ein volkommenes Vakuum wahrgenommen oder sogar eher ein schwarzes Loch, das ihr keine Kraft gab, sondern drohte, jegliche Energie von ihr aufzusaugen, jeden Lebensfunken nahm. Trotz der sommerlichen Wärme fröstelt es ihr plötzlich.

Natali blickt auf das alte Tagebuch in ihren Händen. Was würde sie wohl auf den Tagebuchseiten lesen, welche sie damals den Flammen übergeben hatte? Sie runzelt die Stirn. Oft hat sie schon diese einst so impulsive Handlung bedauert, aber vielleicht ist es besser so. Vielleicht ist es besser, dass diese Seiten für immer verloren sind.

Sie verdrängt die Erinnerung, die in ihr aufsteigt. Es gab Zeiten, in denen sie das schützende Netz ihrer Kreise verloren hat und hindurch gestürzt ist in eine innere gähnende Leere.

Natali steht auf, legt die Arme schützend um sich und schaut nachdenklich auf das städtische Treiben unter ihr. Sie weiß mittlerweile, dass es für sie auch darum geht, wohin sie ihren Fokus richtet. Sie sollte den Blick dafür nicht verlieren, wie wunderbar es ist, dass sie nun hier steht und mutig in die Zukunft blicken kann; Dass sie Pläne schmiedet und wunderbare Momente mit ihrem lieben Mann verbringen kann. So etwas wäre vor nicht allzu langer Zeit für sie undenkbar gewesen und es hätte ihr ungemein Hoffnung gegeben, zu wissen, wie ihre Zukunft aussehen würde.

Sie denkt wieder an Rilkes Ringe und ihr wird klar, dass sie einen Großteil ihres Lebens damit verbracht hat, nicht selber Ringe zu schlagen, sondern unter Wasser im reißenden Strom treibend den Ringen des Weltgeschehens zuzusehen, die sich über ihr auf seiner Wasseroberfläche ausbreiten.

Es ist dieses Gefühl, hilflos, wie eine Ertrinkende in einem bodenlosen Strom mitgerissen zu werden. Über sich erblickt sie die unerreichbare Wasseroberfläche, während sie sich vom Leben verabschiedet.

Dieses Gefühl ist noch immer stark in ihr.

Doch es gibt etwas, das sie zurzeit halbwegs über der Wasseroberfläche hält, so dass sie immer wieder Atem schöpfen kann: Sie hat eine wichtige Aufgabe, die sie vollbringen möchte: Ihr Romanprojekt. Dabei geht es nämlich um weit mehr, als nur um eine bloße Geschichte.

Ihr Blick gleitet von der Stadt zum Himmel. Eine große, bedrückende und rabenschwarze Wolke ist noch immer da, denkt sie. Natali blinzelt in den strahlenden Himmel. Dann dreht sie sich um und zieht sich zügig in die Wohnung zurück.

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