Szene 35. Vergebliche Bemühungen
Stig saß in seinem Auto und starrte auf die heruntergekommene Fassade des Mehrfamilienhauses, in dem Leon lebte. Die Abenddämmerung legte sich über die Straßen von Köln und tauchte alles in ein blasses, tristes Licht. Der Parkplatz vor dem Gebäude war leer, bis auf ein paar verrostete Fahrräder und Mülltonnen, die achtlos herumstanden. Stig wusste, dass er diesen Moment nicht länger hinauszögern konnte.
Er stieg aus dem Wagen und atmete tief durch. Die kühle Luft fühlte sich schwer an, als ob sie mit den Lasten seiner eigenen Vergangenheit gefüllt wäre. Er ging auf die Haustür zu, die quietschend aufschwang, als er sie aufdrückte. Der muffige Geruch des Treppenhauses stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an seine eigene Kindheit in ähnlichen Verhältnissen – zwar nicht so ärmlich, aber mindestens so verwahrlost.
Leon war ein Junge, den Stig nicht aufgeben wollte, obwohl jeder Versuch, zu ihm durchzudringen, bislang gescheitert war. Er sah so viel von sich selbst in Leon – die gleiche rebellische Haltung, die gleiche Flucht in den Alkohol. Aber anders als bei Anja wollte er dieses Mal nicht versagen. Dieses Mal würde er kämpfen.
Stig klopfte an die Tür von Leons Wohnung. Es dauerte eine Weile, bis er Schritte hörte, die sich näherten. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Leons blasses Gesicht erschien im schwachen Licht der Flurlampe.
„Herr Nierast? Was machen Sie hier?“, fragte Leon, ohne die Tür weiter zu öffnen.
„Ich muss mit dir reden, Leon“, sagte Stig ernst. „Es geht um deine Zukunft.“
Leon seufzte und ließ Stig widerwillig eintreten. Durch die halb angelehnte Küchentür drang Gelächter und Zigarettenrauch. Stig konnte mehrere Männer sehen, die dort am Tisch saßen und Karten spielten.
Eine Flasche Schnaps stand geöffnet in der Mitte des Tisches. Leon schnappte Stigs Blick auf und blickte dann sofort verschämt zu Boden.
„Am besten gehen wir in mein Zimmer“, schlug er vor und machte sich zügig auf den Weg dorthin.
Leons Zimmer war klein und unordentlich, gefüllt mit leeren Bierdosen und Zigarettenstummeln. Stig setzte sich auf den einzigen freien Stuhl, während Leon sich auf das zerfledderte Sofa fallen ließ.
„Leon, das hier muss aufhören“, begann Stig. „Du kannst nicht weiter so leben. Der Alkohol, die Drogen – das wird dich zerstören.“
Leon rollte mit den Augen und zündete sich eine Zigarette an. „Sie klingen wie meine Mutter, Herr Nierast. Sparen Sie sich die Predigten. Sie verstehen mich nicht.“
Stig lehnte sich vor, seine Hände zitterten leicht.
„Doch, Leon, das tue ich. Ich weiß, was es bedeutet, sich in den Alkohol zu flüchten, um die eigenen Ängste zu betäuben. Ich habe dieselben Fehler gemacht und gesehen, wohin sie führen.“
Leon sah ihn skeptisch an, seine Augen verengten sich. „Was wissen Sie schon? Sie haben doch keine Ahnung, wie es ist, in so einem Loch aufzuwachsen.“
Stig nahm einen tiefen Atemzug und erzählte von seiner Vergangenheit – von seiner eigenen Flucht in den Alkohol, von Anja und ihrem tragischen Ende. Er sprach von den dunklen Tagen, als er dachte, es gäbe keinen Ausweg, und wie er schließlich erkannte, dass er Hilfe brauchte.
„Ich habe Fehler gemacht, Leon. Große Fehler. Aber ich habe daraus gelernt. Und ich will nicht, dass du denselben Weg gehst“, sagte Stig mit Nachdruck. „Du hast die Möglichkeit, dein Leben zu ändern. Es ist nicht zu spät.“
Leon warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „Und was, wenn ich das nicht will? Was, wenn ich so weiterleben will?“
Stig schüttelte den Kopf, seine Stimme wurde eindringlicher. „Dann wirst du irgendwann an einem Punkt landen, an dem es kein Zurück mehr gibt.
Glaub mir, Leon, du bist besser als das. Du hast so viel Potenzial, aber du musst es nutzen.“
In Stig keimte die Hoffnung auf, er hätte in Leon etwas bewegt.
Leon schwieg lange, und Stig konnte sehen, wie ein innerer Kampf in ihm tobte. Schließlich schüttelte Leon den Kopf, richtete sich auf und klatschte entschlossen mit beiden Händen auf seine Knie.
„Hören Sie, Herr Nierast. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber das hier ist mein Leben. Und ich möchte nicht, dass Sie sich da einmischen.“
Stig fühlte einen Stich im Herzen. „Leon, ich versuche nur, dir zu helfen. Ich will nicht, dass du denselben Fehler machst wie ich.“
Leon stand auf und ging zur Tür. „Es tut mir leid, Herr Nierast. Aber ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können. Vielleicht sollten Sie einfach gehen.“
Stig erhob sich langsam. „Wenn du jemals reden möchtest oder Hilfe brauchst, ich bin für dich da.“
Leon öffnete die Tür und nickte. „Danke, Herr Nierast. Aber ich will meinen eigenen Weg gehen.“
Stig verließ die Wohnung mit schweren Schritten. Er hatte versagt, das wusste er. Aber er würde nicht aufgeben. Eines Tages, hoffte er, würde Leon verstehen, dass er es nur gut meinte.
Er stieg in sein Auto und ließ den Motor an, doch er fuhr nicht sofort los. Er saß noch eine Weile da und starrte auf die dunkle Fassade des Hauses. Er musste wohl akzeptieren, dass er nicht die Kontrolle über alles hatte. Manchmal gab es keinen anderen Weg, als loszulassen, auch wenn es das Schwierigste auf der Welt war.
Mit einem letzten Blick auf das Haus, hinter dessen Türen Leon seinen eigenen Kampf kämpfte, fuhr Stig langsam davon.
„Ich gebe nicht auf!“, murmelte Stig, die Hände fest um das Lenkrad geklammert. „Wir werden einen gemeinsamen Weg finden.“
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