Eine junge Frau mit schulterlangen, welligen braunen Haaren sitzt lächelnd auf einem Balkon. Sie hält ein altes, verziertes Buch in ihren Händen und schaut direkt in die Kamera. Im Hintergrund ist ein grüner, blühender Innenhof zu sehen, der eine ruhige und friedliche Atmosphäre ausstrahlt. Die Frau trägt einen beigen Pullover, und ihre großen grünen Augen wirken nachdenklich und verträumt.

Kapitel 12 – Initial

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Natali sitzt auf ihrem Balkon, die Arme auf das Balkongeländer gestützt, und blickt in den hübsch begrünten Innenhof. Die Baumkronen wiegen sich sanft im Wind eines späten, sonnigen Frühlingstages, und der Klang von spielenden Kindern erfüllt die Luft, unterlegt von dem süßen Duft blühender Jasminsträucher. Es ist ein friedlicher Moment, ein Moment der Reflexion.

In ihrem Schoß liegt ein verwittertes Tagebuch, dessen Seiten sie langsam umblättert. Jedes Blatt ist eine Erinnerung, ein Stück ihrer Vergangenheit, das sie einst im jugendlichen Eifer fast verbrannt hätte. Doch dieses spezielle Gedicht, das sie nun in den Händen hält, hat überlebt. Sie beginnt leise vor sich hin zu lesen: „Der beste Weg, sein Leben zu genießen…“, ihre Stimme zögerlich, dann mit mehr Nachdruck, als würde sie sich in die Gedanken der jungen Natali hineinversetzen. Als sie das Ende des Gedichts erreicht, verweilt sie einen Moment in Stille und nimmt einen tiefen Atemzug. (Hinweis: Das gesamte Gedicht findet sich im Anhang.)

„Existenzialismus“, murmelt sie, ihre Gedanken an jene Tage zurückwendend, als sie die Werke von Sartre und Camus verschlang. Sie erinnert sich an die leidenschaftlichen Diskussionen über das Leben, den freien Willen und die Suche nach Bedeutung in einer scheinbar sinnlosen Welt.

Das Gedicht erweckt in ihr das Bild einer jungen Frau, die mit der Dualität des Lebens ringt, die die Freuden und Leichtigkeit des Daseins preist, aber auch dessen Absurdität und Bedeutungslosigkeit erkennt.

Absurdität und Bedeutungslosigkeit … Einen winzigen Moment lang hat Natali das Gefühl, die Welt um sie herum würde durchlässig werden, wie ein zartes Netz, durch das sie hindurchzufallen droht, in eine bodenlose Leere. Gleichzeitig fröstelt es ihr, als ob diese schwarze Wolke sich wieder vor die Sonne geschoben hätte.

Doch es ist wichtig, wohin sie ihren Fokus richtet. Sie richtet ihren Blick auf den strahlend blauen Himmel und nimmt erneut einen tiefen Atemzug von der wunderbar duftenden Frühlingsluft.

Mit einem sanften Lächeln blättert sie weiter und findet eine Randnotiz, handschriftlich hinzugefügt: „Konstruktivismus? Wie formen wir unsere eigene Realität? Wie gestalten wir unsere Perspektive?“ Das lässt sie innehalten. Ihre Gedanken schweifen zu ihren kürzlichen Recherchen zum Konstruktivismus, und sie denkt darüber nach, dass wir unsere eigene Realität gestalten, unsere eigenen Wahrheiten schaffen. Und plötzlich wird ihr klar, dass dieses Gedicht mehr ist als nur eine Reflexion über das Leben. Es ist eine Einladung zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung, das Leben bewusst zu gestalten und eigene Bedeutungen zu schaffen.

Ein Lächeln spielt um ihre Lippen, als sie das Tagebuch schließt. In der Kombination von Existenzialismus und Konstruktivismus sieht sie eine mächtige Botschaft: Das Leben mag dem Menschen mit seiner begrenzten Erkenntnisfähigkeit sinnlos erscheinen, aber es liegt an uns, dem Leben Sinn zu geben.

Langsam steht sie auf und geht zurück in ihre Wohnung, das Tagebuch fest in der Hand.

Es ist Zeit!

Es ist Zeit, weiterzuschreiben, die Geschichte fortzusetzen und vielleicht auch, ihre eigenen Überzeugungen und Reflexionen tiefer zu erkunden.

Natali lächelt, denn ihr gefällt der Gedanke, dass auch das Schreiben eine Form der Realitätsgestaltung und -erweiterung ist, für sie und für etwaige Leserinnen und Leser ihrer Texte.

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